Die Schicksalsgeschichten, die Frauenorganisationen seit Jahren sammeln, wirken verstörend und werfen ein fahles Licht auf das Rechtssystem der Schweiz: Sie erzählen von Opfern häuslicher Gewalt – meist, aber nicht ausschliesslich, sind es Frauen – die sich nicht wehren können oder dürfen, aus Angst, das Land verlassen zu müssen, wenn sie ihre Niederlassungsbewilligung durch eine Heirat erhalten haben.
In den Archiven der Frauenorganisationen wird etwa von der heute 41-jährigen Nour berichtet: Die gebürtige Marokkanerin heiratete einen Schweizer und erhielt aufgrund des Familiennachzugs eine Aufenthaltsbewilligung. Bald darauf wurde sie von ihrem Mann verprügelt, gewürgt und bedroht. Er versteckt ihre Papiere und verlangt die Scheidung.
Der Mann wird zwar in wenigen, leichteren Fällen wegen Körperverletzung und Beleidigung gegen sie verurteilt. Für die geschiedene Nour endet der Horror nicht: Nach der Auflösung der Ehe verliert sie die Voraussetzung für den Aufenthalt in der Schweiz. Sie stellt zwar einen Härtefallantrag, der wird aber vom Staatssekretariat für Migration (SEM) abgelehnt.
Es folgt ein Rechtsstreit, in dem es um die Intensität der Gewalt geht, die sie in der Ehe erlebt hat: Sie muss als Opfer von häuslicher Gewalt aufzeigen, dass ein besonderer Grund vorliegt, um weiterhin in der Schweiz bleiben zu dürfen. Szenen, die viele andere Frauen ebenfalls erleben – watson liegen die Geschichten einer kosovarischen Frau namens Elira oder einer algerischen Frau mit Pseudonym «Amina» vor.
Was ihr Leben erschwert, ist die Deutung des Härtefallartikels im Ausländer- und Integrationsgesetz: Dieser sieht vor, dass die Aufenthaltsbewilligung nach einer Scheidung oder Trennung verlängert werden kann, wenn die Beziehung länger als drei Jahre andauerte und die betroffene Person «integriert» ist – oder eben, wenn «wichtige persönliche Gründe» vorliegen.
Die anfangs erwähnte Nour konnte das erste Kriterium nicht erfüllen: Ihr Ex-Mann habe sie an der kurzen Leine gehalten. Sie durfte nicht arbeiten und konnte wegen versteckten Identitätspapieren keinen geregelten Alltag führen. Die häusliche Gewalt wurde von den Behörden trotzdem nicht als «wichtiger persönlicher Grund» anerkannt.
In anderen Fällen korrigierten Gerichte den Behördenentscheid. Schweizweit herrschte aber dazu ein Wildwuchs: Gewaltopfer waren abhängig vom Gutdünken von Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter. Die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht kritisiert schon lange, dass «hinsichtlich des Schutzes gewaltbetroffener Migrantinnen grosse Lücken bestehen».
Diese Lücke soll nun aber gestopft werden. Die Ständeratskommission für Staatspolitik entschied am Montag überraschend, dass die Härtefallpraxis für Fälle von häuslicher Gewalt garantiert werden solle. Das Parlament wählte dabei ein besonderes Vorgehen: Es will die Gesetzesänderung selbstständig in die Wege leiten, ohne dass Juristinnen und Juristen des Bundes mitwirken müssen. Diese beginnt nun, nachdem beide Kommissionen das grüne Licht dafür gegeben haben.
Erreicht wurde dies durch eine überparteiliche Gruppe von Parlamentarierinnen, angeführt von der Nationalrätin Samira Marti (SP/BL) und unterstützt von Nationalrätin Marianne Binder-Keller (Mitte/AG). Sie traten bislang nicht gross in Erscheinung: Als Absenderin des Vorstosses wurde lediglich die Kommission genannt, damit er nicht wegen Parteipolitik abgelehnt wird. Die Baselbieter Sozialdemokratin Marti sagt dazu: «Die Korrektur in diesem Bereich ist überfällig. Seit Jahren ist das Problem bekannt. Für die Betroffenen ist diese Lösung ein grosser Fortschritt.»
Die Mitte-Politikerin Binder-Keller, die gestern die vorgeschlagene Gesetzesänderung in der Ständeratskommission vorstellen durfte, zeigt sich hocherfreut über die parteiübergreifende Arbeit. Sie sagt dazu: «Mit dieser Präzisierung korrigieren wir die Widersprüche, die es zum Teil in der Vergangenheit gegeben hat: Das Gesetz verlangte von den Opfern häuslicher Gewalt, integriert zu sein, was in prekären Beziehungen nicht immer möglich ist, oder gar länger in einer gewalttätigen Beziehung zu bleiben, um das Aufenthaltsrecht nicht zu verlieren.»
Schweinerei.
Herzlichen Dank für diesen kleinen und doch so bedeutenden Satz!
Er gibt einer grossen Minderheit viel gehör! 👍🏽🙏🏼