«Im Zentrum unseres Festivals steht die Liebe», sagt Direktor Luciano Barisone bei einer seiner Reden in Nyon, «das wurde uns aber erst am Ende unserer Auswahl richtig bewusst.» Stimmt nicht. Also, es stimmt für Christian Freis «Sleepless in New York» und für «Love & Engeneering» von Tonislav Hristov über Single-Nerds in Helsinki, die versuchen, einen Algorithmus für die Liebe zu finden. Die Konsequenz der Geschichte: Sie finden keinen und bleiben allein, höchst wahrscheinlich, weil sie in echt noch langweiliger sind als im Film. Nerds mögen in der Sitcom «Big Bang Theory» die grossen Identifikationsfiguren für alle sein, die sich für Genies halten, ein kindliches Gemüt haben und in ihren sozialen Fähigkeiten beeinträchtigt sind, bei Hristov bleiben sie so blass wie ihre Gesichtsfarbe.
Gehen wir deshalb weg von der Liebe, die an den Visions du réel nicht in allen Fällen auf Gegenliebe stösst. Gehen wir zu zwei im Kern klassischen, da aufklärerischen Dokumentarfilmen. Sie stehen in Nyon im angenehmsten Gegensatz zum verklärenden Dokumentarfilm, etwa «Städtebewohner» von Thomas Heise über einen Jugendknast in Mexiko, schöne, einsichtige junge Männer in durchstilisiertem Schwarz-Weiss, das Gefängnis als Wohlfühl- und Selbstfindungsanlage, bis zum Einschlafen überästhetisiert.
Aber die beiden Filme, die ich meine, heissen «Je suis Femen» von Alain Margot aus La Chaux-des-Fonds und «The Empire of Shame» der Südkoreanerin Hong Li-Gyeong. Zwei Frauenfilme. Zwei brutale Filme. Zwei Filme, nach denen man Femen und Samsung anders betrachtet.
Denn Hong Li-Gyeong hat den Protest von Arbeiterinnen und Arbeitern eines Samsung-Werks in Seoul dokumentiert. Und das Leiden. Die Fabrik, in der Halbleiterchips für Computer hergestellt werden, setzt ihre Belegschaft – mehrheitlich junge Frauen – hochgiftigen Dämpfen aus. Die Anzüge, die sie dabei tragen, dienen nicht zum Schutz der Menschen, sondern schützen die teuren Elektroteile vor Staub. Bis auf einen winzigen Augenschlitz verhüllen sie den ganzen Körper und verunmöglichen die Kommunikation am Arbeitsplatz.
Eine Frau erzählt, wie sie den ganzen Tag im Bleidampf steht, ohne Fenster, ihr Mittagessen nimmt sie auf der Toilette zu sich, weil das der einzige Ort ist, der nicht nach Blei stinkt, Zeit, nach draussen zu gehen, hat sie keine. Eine andere ist halbseitig gelähmt und kann kaum mehr sprechen: «Meine Realität? Ich bin jetzt eine Idiotin.» Einem Arbeiter verfaulen die Finger. 58 Menschen, darunter auch einige Männer, sind innerhalb weniger Jahre an Krebs erkrankt, hauptäschlich an Leukämie, viele sind gestorben, die Opfer sind alle in ihren Zwanzigern oder Dreissigern. Im Januar 2013 leckt ein Tank mit Fluorwasserstoffsäure: Die Putztruppe stirbt.
Eine Arbeiterin erzählt von Trainingscamps für Samsung-Mitarbeiter: Sie müssen sich von Bäumen hängen lassen und Tierlaute ausstossen. Das Selbstwertgefühl wird gebrochen. Die Herstellung von Hightech geht einher mit einer perversen Herstellung von Scham. Hong Li-Gyeong begleitet die kranken Frauen, die Hinterbliebenen der Toten und all die Eltern von behindert zur Welt gekommenen Kindern vor Gericht, wo ein sensibel dreinblickendes Vorstandsmitglied von Samsung sagt, es wünsche den «Vertretern von allen Parteien eine gute Besserung». Es ist der schmerzhafte Zynismus eines Konzerns, der genau weiss, dass er als grösster Arbeitgeber eines Landes die Behörden auf seiner Seite hat.
«The Empire of Shame» ist der Erstling der jungen Hong Li-Gyeong, er ist mutig und macht traurig, und wer ihn sieht, wird sich das mehr als gründlich überlegen mit der Anschaffung eines Samsung-Smartphones. Aber wahrscheinlich sind die Zustände in den Fabriken der chinesischen Apple-Zulieferer auch nicht besser.
Man kommt nicht umhin, den 54-jährigen Alain Margot des Glüschtelertums zu verdächtigen. Er hat sein Schaffen – der frankophilen Tradition verpflichtet – ganz in den Dienst von «la femme» gestellt. Und «la femme» ist vorzugsweise sehr jung, sehr schön und hat irgendwas mit Russland zu tun. Alain Margot macht zum Beispiel erotische Fotoshootings mit Xenia Tchoumitcheva. Und jetzt hat er sich den kreischenden, nackten Frauen von Femen gewidmet. Er besuchte die Femen-Gründerinnen Oxana, Inna, Sasha und Anna 2012 und 2013 in der Ukraine – und geriet dabei an ein paar Frauen, die weit klüger, politisch radikaler und reflektierter sind, als dass die Femen-Aktionen erahnen lassen.
Oxana, die heute 27-jährige Kreativchefin von Femen, wollte mit 12 Jahren ins Kloster und Ikonen malen, danach wurde sie Jugendarbeiterin, heute ist sie Künstlerin, entwirft die Kostüme und Kundgebungen und redet, als hätte sie ultralinkes feministisches Manifest verschluckt. Sie stellt sich gegen Regierung wie gegen Opposition, sie wird verhaftet, wieder und wieder, in der Ukraine, in Russland, in Weissrussland, verschleppt, geschlagen, mit Motorenöl übergossen und gefedert. Manchmal kriecht sie weinend ins Bett, aufgeben wird sie nie. Ihre Mutter sagt: «Man kann sie mit Jeanne d’Arc vergleichen oder mit Clara Zetkin. Sie ist eine Revolutionärin, ich bin stolz auf sie.» Alte Frauen jubeln Femen in den Strassen von Kiew zu.
Im August 2013 werden Anna und der Femen-Symphatisant Victor Sviatsky vom Geheimdienst fast zu Tode geprügelt, Oxsana und ihre Freundinnen fliehen aus der Ukraine und verlegen die Femen-Zentrale nach Paris, Anna geht in die Schweiz zu ihrer Schwester und will Femen Schweiz gründen. Sie zweifeln nicht daran, dass ihnen in der Ukraine der Tod droht. Am Ende dieses Films ist man ein bisschen Fan von Femen. Es steckt schon recht viel Kraft, Tollkühnheit und Substanz hinter ihren Auftritten.
An der Substanz der Männer und ihrer geistigen Verfassung zweifelte man in Nyon ja schon nach «Love & Engeneering» ein wenig, vollends aber nach «René Live – Mensch gegen Maschine» der beiden Schweizer Roman Vital und Sandro Zollinger. Es ist eine jener Geschichten über ein sogenanntes Original, eine filmische Ausbeutung, könnte man zu bedenken geben. Aber es haftet der Darstellung dieses durchgeknalltesten aller Bündner etwas schön Superheldenmässiges an, als hätte es der René mit entworfen.
René ist, so sagt er, der «schnellste Highspeed-Jodler der Welt», er kann nämlich «schneller Jodeln als ein Kampfjet Meter zurücklegt vom Start bis zum Abheben». Das mag verstehen, wer will, es geht um 37 Flugzeugmeter gegen 38 Jodeltöne pro Sekunde, und weil René damit ins Guinness Buch der Rekorde will, muss jetzt eben ein Flugzeug her und ein Flugplatz, Sponsoren und eine VIP-Gala.
Zwei weitere Renés sollen ihm dabei behilflich sein, sie sind sowas wie seine ehrenamtlichen Psychiatriepfleger. Nach vier Jahren geben sie den Versuch, den irren Missionar von möglichen Sponsoren fernzuhalten, entnervt auf. Und René? Kompletiert weiterhin seine immer grössenwahnsinnigere Vision und ist ein glücklicher Narr dabei. Dann ruft er Russland an. Da sieht er noch viel Hoffnung.
Draussen, vor dem Kino, steht derweil eins jener Festivaloriginale, von denen es überall auf der Welt ein paar gibt, aber in Nyon ist es besonders verrückt: Ein Mann trägt rund um seinen Kopf ein Aquarium mit echten Goldfischen drin. Auch der hat so seine Visionen.