Daniel Jositsch kämpft an vorderster Front für ein Nein bei der Frontex-Vorlage. Dass Bundesrätin Karin Keller-Sutter sage, die Schweiz würde bei einem Nein aus Schengen rausfliegen, sei «einfach nur Panikmache», behauptete der SP-Ständerat kürzlich in einem Video mit dem Namen «die Schengen-Lüge».
Wenn am 15. Mai ein Nein rauskomme, so Jositsch, «wird der Bundesrat den anderen Schengen-Staaten mitteilen, dass die Schweiz noch etwas Zeit braucht, um eine Lösung zu finden, welche die Mehrheit der Bevölkerung akzeptieren kann.» Dass die Schengen-Staaten in so einem Fall finden würden, dass man die Schweiz einfach ausschliessen wolle, sei «komplett unrealistisch». Schon sieben Mal habe die Schweiz seit 2008 eine Schengen-Entwicklung zu spät umgesetzt, es sei noch nie etwas passiert. Nach Buchstaben des Gesetzes hat die Schweiz zwei Jahre Zeit, um EU-Verordnungen zu übernehmen.
Die Frist für den Frontex-Ausbau sei eigentlich bereits im Dezember 2021 ausgelaufen, argumentierte der Professor für Strafrecht einige Tage später in einem NZZ-Interview. «Trotzdem hat uns die EU nicht hinausgeworfen. Und warum? Weil sie null Interesse daran hat, dass es mitten in Europa eine Insel im Schengenraum gibt.»
Das Ziel von Jositsch: Bei einem Nein soll das Geschäft so schnell wie möglich noch einmal im Parlament behandelt werden. Dabei sollen Massnahmen für Menschen auf der Flucht ergriffen werden. Konkret soll die Schweiz das Kontingent der Resettlement-Flüchtlinge erhöhen. Vorstösse zur Erhöhung dieses Kontingents scheiterten jedoch vergangenes Jahr im Parlament.
Die Aussagen Jositschs will Sanija Ameti nicht stehen lassen. «Die meisten Rechtsexpertinnen und Rechtsexperten sehen es nicht so wie Jositsch», meint die Co-Präsidentin der Operation Libero im Gespräch mit watson. Ein Nein an der Urne sei ein «Nicht-Übernahmeentscheid und riskiert den automatischen Ausschluss innert 90 Tagen».
Es sei denn, die EU-Kommission und alle EU-Staaten sowie die Schweiz können sich innert 90 Tagen einstimmig einigen. «Wir dürfen nicht darauf pokern. Denn wir wurden schliesslich kürzlich auch ohne Wimpernzucken aus EU-Programmen ausgeschlossen – obwohl die EU ein Interesse daran hätte, dass die Schweiz dabei ist», sagt Ameti.
«Ja, wir waren auch schon früher zu spät dran mit den Übernahmen der EU-Verordnungen», so Ameti weiter. «Aber wir haben noch nie an der Urne Nein gesagt. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Bisher wurde noch nie ein Nicht-Übernahmeentscheid gefällt.»
Jositsch könne «nicht davon ausgehen», dass bei einem Nein innerhalb von 90 Tagen eine Lösung im Parlament gefunden werde, meint Ameti. «Normalerweise geht das länger. Sodann werden SVP-Kreise wahrscheinlich noch ein Referendum ergreifen. Dann sind die 90 Tagen schon lange vorbei.» Die Operation Libero sei nicht gegen eine Erhöhung des Kontingents für Resettlement-Flüchtlinge, so Ameti. «Aber so, wie es Herr Jositsch machen will, ist der falsche Weg.»
Noch im Jahr 2019 warb Jositsch für ein Ja bei der Übernahme der EU-Waffenrichtlinie. Damals warnte der Rechtsprofessor vor einem Schengen-Ausschluss. «Ein Nein könnte zu einem Ausschluss der Schweiz führen, mit allen negativen Auswirkungen für Sicherheit, Wirtschaft und Reiseverkehr», sagte Jositsch damals. «Dass er jetzt einfach komplett anders argumentiert, ist einfach widersprüchlich», hält Ameti fest.
In einem Interview mit der linken Zeitung PS habe Jositsch noch im Sommer vergangenen Jahres gesagt, dass es sich lohne, das Schengen-Abkommen «notfalls aufs Spiel zu setzen», da es um Menschenleben gehe, fährt Ameti fort. «Jetzt behauptet er, dass es gar nicht aufs Spiel gesetzt wird. Das ist widersprüchlich und nicht glaubwürdig.»
Zwischen den Linken und der Operation Libero ist wegen des Frontex-Referendums schon länger Feuer unter dem Dach. Die Operation Libero würde «eine Europa-Politik à la Orban machen», twitterte etwa SP-Nationalrat Fabian Molina. SP-Copräsidentin Mattea Meyer warf der Bewegung wegen des Kampagnensujets, das haltende Hände zeigt, «Pietätlosigkeit» vor. Ameti räumte später ein, dass man das Sujet hätte besser machen können.
Warum die @operationlibero Kampagne für Frontex zynisch ist. Ein Thread
— Mattea Meyer (@meyer_mattea) March 30, 2022
1. „Menschenrechte“ ist jetzt nicht der erste Begriff, der mir bei #Frontex in den Sinn kommt. „Menschenrechtsverletzungen“ schon eher. (1/5) https://t.co/wnOl0WR6ya
Für die Grünen und die SP, welche die Nein-Parolen beschlossen haben, ist die Vorlage ein heisses Eisen. Denn eine kleine Mehrheit der linken Wählerinnenbasis ist gemäss der letzten Umfragen für ein Ja. Auch generell sieht es nicht gut aus für die Gegnerinnen der Vorlage. Bei der letzten Umfrage wollten nur gerade 25 Prozent bestimmt «Nein» stimmen. Ob Jositsch mit seinem Schluss-Effort noch einige Wähler ins Nein-Lager ziehen konnte, wird sich am Sonntag zeigen.
Daniel Jositsch war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
LURCH
Wem soll man nun glauben?
Neben dem dass ich den Brief eh schon lange eingeworfen habe, bin ich nun endgültig der Meinung dass ich mich richtig entschieden habe.
Lowend
Ich mag Daniel Jositsch eigentlich sehr, aber bei Sätzen wie: «Weil sie (die EU) null Interesse daran hat, dass es mitten in Europa eine Insel im Schengenraum gibt.» verstehe ich jede und jeden EU-Politiker, die die Schweiz als Rosinenpicker bezeichnen. So nicht, liebe SP!
chicadeltren