
Was wird die Europäische Union tun, wenn die Schweizer Stimmbevölkerung am 15. Mai 2022 Nein zur Frontex-Vorlage sagt?Bild: keystone
Bedeutet ein Frontex-Aus auch das Ende der Schweizer Mitgliedschaft bei Schengen/Dublin? In der Justiz gehen die Meinungen auseinander. Eine Gegenüberstellung.
29.04.2022, 06:5929.04.2022, 04:59

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Es ist die Kernfrage im Abstimmungskampf über den Beitrag an die oft kritisierte EU-Grenzschutzbehörde Frontex: Wird die Schweiz bei einem Nein am 15. Mai aus Schengen/Dublin ausgeschlossen? Nein sagen jene Gegnerinnen aus dem linken Lager, die das Referendum gegen die Vorlage ergriffen haben. Sie sind grundsätzlich dafür, dass die Schweiz Mitglied bleibt.
Nein sagt auch Rainer Schweizer. Der emeritierte Professor für öffentliches Recht und Europarecht hat das Rechtsgutachten verfasst, auf das sich die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner stützen.
Seine Kollegin von der Universität Freiburg, Sarah Progin-Theuerkauf, widerspricht. Die Professorin für Europa- und Migrationsrecht stützt die Haltung von Bundesrat und der Parlaments-Mehrheit.
watson hat den Beiden vier Fragen zum Thema gestellt.
Das Schengen/Dublin-Abkommen kurz erklärt
Schengen/Dublin ist eine Zusammenarbeit europäischer Staaten in den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Visa. Die Grundidee war es, dass der Reiseverkehr zwischen den europäischen Ländern vereinfacht wird und dennoch sicher bleibt. Mit Schengen wurden die Personenkontrollen zwischen den Schengen-Staaten grundsätzlich aufgehoben. Dublin bezeichnet die Zusammenarbeit im Bereich der Asylpolitik und sorgt dafür, dass eine Person nicht in mehreren Ländern gleichzeitig ein Asylgesuch stellen kann.
Die Schweiz nimmt seit 2008 an dieser Zusammenarbeit teil.
Bedeutet ein Frontex-Aus auch das Ende der Schweizer Mitgliedschaft bei Schengen/Dublin?
Sarah Progin-Theuerkauf: Ja. Das Schengen-Assoziierungsabkommen wird als beendet angesehen, wenn die Schweiz eine Weiterentwicklung des Schengen-Rechts ablehnt. Die neue Frontex-Verordnung stellt eine solche dar. Ausserdem ist die Dublin-Assoziierung automatisch weg, wenn die Schengen-Zusammenarbeit dahin fällt. Beide Abkommen sind über eine Guillotine-Klausel verknüpft.
Rainer Schweizer: Auf keinen Fall. Dieses Argument ist reine Angstmacherei. Seit Schengen/Dublin besteht, haben Mitgliedstaat wiederholt gewisse Rechtsübernahmen nicht erfüllt und das zum Teil ganz erheblich wie Ungarn oder Slowenien. Ausserdem hat die Schweiz in den letzten 20 Jahren brav jegliche Gesetze, Verordnungen und Richtlinien übernommen. Es ist unvorstellbar, dass wir aus diesem Rechtsraum ausgeschlossen werden.

Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europa- und Migrationsrecht an der Universität Freiburg.Bild: zvg

Rainer Schweizer ist emerierter Professor für Staats-, Europa- und Völkerrecht an der Universität St.Gallen.Bild: zvg
«Einigen EU-Staaten sind die ständigen Sonderwünsche der Schweiz ohnehin ein Dorn im Auge.»
Sarah Progin-Theuerkauf
Sagt die Schweiz Nein zu Frontex, können die EU-Staaten innert 90 Tagen noch beschliessen, dass wir nicht aus Schengen/Dublin ausgeschlossen werden. Wie interessiert sind die anderen EU-Staaten daran, ob die Schweiz Mitglied bleibt?
Progin-Theuerkauf: Ob die Schweiz im Schengen-/Dublin-Raum dabei ist oder nicht, spielt für die meisten Mitgliedstaaten keine grosse Rolle. Einigen Staaten sind die ständigen Sonderwünsche der Schweiz ohnehin ein Dorn im Auge. Bei Dublin kommt noch hinzu, dass die Schweiz dort als Binnenstaat ein Netto-Gewinner ist, da sie mehr Personen in andere Dublin-Staaten überstellen kann, als sie übernehmen muss. Dementsprechend wird da wohl kein Mitgliedstaat Partei für einen Verbleib der Schweiz ergreifen.
Schweizer: Natürlich wollen die übrigen EU-Staaten, dass die Schweiz Mitglied bleibt. Weder Italien, noch Frankreich, Deutschland oder Österreich wollen ins Jahr 1998 zurück, als es die bilateralen Verträge mit der Schweiz nicht gegeben hat. Die Verhältnisse haben sich seit damals komplett geändert. Ein Ausschluss des Exportlandes Schweiz ist völlig undenkbar, alleine für die Wirtschaft oder wegen des Personalaufwands an den Grenzen. Vor allem will aber die EU im Schengenraum keine Rechtslücke.
«Das Schengener Assoziationsabkommen wird nicht gekündigt, indem wir Ja oder Nein zu dieser Vorlage sagen. Dafür sind die Rechtsbeziehungen heute viel zu komplex.»
Rainer Schweizer
Bisher gab es seitens der Schweiz immer wieder Verzögerungen – ohne Folgen. Warum sollte es dieses Mal anders sein?
Progin-Theuerkauf: Verzögerungen sind etwas anderes als ein klares Nein zur Übernahme eines neuen Rechtsakts. Das hat es bisher nie gegeben. Bei Verzögerungen hat sich die EU stets verständnisvoll gezeigt, weil absehbar war, dass die Rechtsakte umgesetzt werden. Weigert sich die Schweiz ausdrücklich, die neue Frontex-Verordnung zu übernehmen, dürfte das nicht der Fall sein.
Schweizer: Wird es nicht. Das ist mir ein grosses Anliegen: Bei diesem Recht, das wir übernehmen, geht es nicht um das Schengener Assoziationsabkommen, das wir mit der EU geschlossen haben. Dieser wird nicht gekündigt, indem wir Ja oder Nein zu dieser Vorlage sagen, dafür sind die Rechtsbeziehungen heute viel zu komplex. Da wir die Frontex-Verordnung mit einem speziellen Vertragsbeschluss übernehmen, können wir wie bei jedem anderen völkerrechtlichen Vertrag jederzeit Vorbehalte und Erklärungen abgeben. Wir sind in einem Netz von Vorschriften und bei dieser Abstimmung müssten wir sagen: Die Entwicklung von Frontex finden wir nicht gut. Bei einem Nein zur jetzigen Vorlage muss die Bundesversammlung ihre Zustimmung überprüfen und nachbessern.
Was würde ein Schweizer Nein tatsächlich bei Frontex ändern?
Progin-Theuerkauf: Nichts. Frontex wird es weiter geben und es wird ohne die Schweiz genau gleich operieren, nur, dass wir dann gar nichts mehr mitbestimmen können. Das Gleiche würde in anderen Bereichen gelten, von denen wir auch ausgeschlossen wären, wie etwa in der Polizeizusammenarbeit.
Schweizer: Wenn wir meinen, wir können nichts erreichen, können wir direkt aufgeben. Die EU ist sehr wohl offen für Kritik und Opposition, auch aus Schengen-Staaten. Die Art, wie sich Frontex entwickelt hat, stellt massive Probleme dar. Wir haben jährlich tausende allein migrierender Kinder, die schlecht behandelt werden. Zahlreiche Menschen werden für mehrere Monate an den Grenzen in Haft gehalten, nicht zuletzt, damit sie nicht über die grüne Grenze gehen. Das ist alles Schengen-rechtswidrig. Wir müssen uns darum kümmern, weil wir eine völkerrechtliche Mitverantwortung haben.
Der Faktencheck zum Thema:
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quelle: keystone / leonid shcheglov
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