Das Super-League-Spiel zwischen dem FC Aarau und dem FC St.Gallen vom 18. Oktober 2014 in Zahlen: 325 im Extrazug angereiste St.Galler Fans, 3 Tore – aber auch 5000 Franken Sachschaden, rund zehn Strafbefehle und das grösste Polizeiaufgebot, das der Kanton bis dahin wegen eines Fussballspiels stellen musste. Seit gestern kommt auf diese Liste auch noch ein eingestelltes Strafverfahren – weil die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau geschlampt hat.
Was war geschehen? Nach dem Spiel gerieten im Bereich des «Penny Farthing Pub» an der Bahnhofstrasse die Anhänger beider Clubs aneinander. Dank umfangreichem Videomaterial konnte die Polizei später einige der Krawallbrüder ermitteln, die Staatsanwaltschaft stellte Strafbefehle aus. Zwei Fans, die diese anfochten, wurden vergangenen August vom Aarauer Gerichtspräsidenten Reto Leiser zu Geldstrafen verurteilt.
Gestern nun musste sich Richter Leiser wohl zum letzten Mal mit den Fankrawallen beschäftigen: Mike (Name geändert) hatte seinen Strafbefehl nicht akzeptiert. Die Staatsanwaltschaft wirft dem St.Galler Landfriedensbruch vor. Das bedeutet: Er soll an einer Zusammenrottung teilgenommen haben, bei der Gewalt gegen Menschen oder Gegenstände ausgeübt wurde.
Mitgehangen, mitgefangen
Würde man eine Karikatur eines Hooligans zeichnen, dann könnte Mike zumindest optisch als Vorbild dienen: Stiernacken, bullige Figur, das Haar kurz geschoren, das Gesicht gerötet. In starkem Kontrast zu seiner äusserlichen Erscheinung stand dann Mikes Gebaren vor Gericht: Er sprach so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte. Mike erzählte, wie er mit dem Extrazug angereist war, zum Brügglifeld ging und dann auf Drängen seiner Kollegen doch wieder umkehrte, um das Spiel ausgerechnet im «Penny Farthing» zu verfolgen – dass dies das Stammlokal der Aarauer Szene ist, habe er nicht gewusst, beteuerte Mike.
Nach dem Spiel rotteten sich gegen 300 Personen beim Lokal zusammen, die Polizei musste den Verkehr umleiten. Es kam zu Tumulten, Sachbeschädigungen, Schlägereien, gezündeten Pyros. Mike, nicht vermummt und nach eigenen Angaben «gegen jede Form der Gewalt», war zwar nicht aktiv beteiligt, aber mittendrin und Teil dieser «friedensbedrohenden Grundstimmung», wie sich Leiser ausdrückte. Mike gab auch zu, sich aus der Menge hinaus in den Vordergrund gedrängt und gegenüber der Polizei sowie den Aarau-Fans wild gestikuliert zu haben: «Wir haben gewonnen, ich habe mich halt gefreut.»
Um 19.46 Uhr griff der polizeiliche Einsatzleiter zum Megafon und befahl den St.Gallern, sich unverzüglich in den Extrazug nach Hause zu setzen – die letzte Chance für die Mitglieder der Zusammenrottung, noch juristisch heil aus der Sache herauszukommen. Denn: Wer zwar Teil einer randalierenden Meute ist und in diesem Sinne Landfriedensbruch begeht, aber selber keine Gewalt ausübt, kommt straffrei davon – wenn er sich auf Anordnung der Polizei sofort vom Ort des Geschehens entfernt.
Einstellung «in dubio pro reo»
Genau da liegt der Knackpunkt: Zwar bestätigen die Videoaufnahmen, dass sich Mike inmitten des Pulks befand und vor der Polizei und den gegnerischen Fans herumfuchtelte. Aber: Die Staatsanwaltschaft hatte versäumt, zu deklarieren, wer diese Videoaufnahmen gemacht hatte – und vor allem zu welchem Zeitpunkt. War es vor- oder nach dem polizeilichen Befehl zur Heimreise gewesen? «Ich habe schlicht und einfach keine Ahnung», sagte Gerichtspräsident Reto Leiser.
Er schloss sich der Kritik von Mikes Verteidiger am Strafbefehl an: «Die Beweisführung wäre Sache der Strafverfolgung gewesen.» Er sah den Tatbestand des Landfriedensbruchs zwar als erfüllt an. Weil aber nicht klar war, ob sich Mike rechtzeitig von der zusammengerotteten Menge entfernt hatte, um straffrei auszugehen, stellte Leiser das Verfahren ein. «Ich heisse zwar nicht gut, was Sie getan haben, aber ich muss Recht anwenden», sagte er. «Nehmen Sie es als grossen ‹Lehrblätz› – viel hat nicht gefehlt.»