Einen so extremen Fall gab es in der Schweiz noch nie. Dick Marty (77, FDP), ehemaliger Tessiner Staatsanwalt, Regierungsrat, Ständerat, Kosovo- und CIA.-Sonderermittler des Europarats, steht seit 16 Monaten unter teils extremstem Polizeischutz, nachdem Attentatspläne einer Gruppe von extremistischen serbischen Geheimdienstleuten bekannt wurden. Offenbar war der Plan, die Schuld für die Tat Kosovo in die Schuhe zu schieben. Als Sonderermittler hatte Marty schwere Vorwürfen namentlich an den ehemaligen Ministerpräsidenten Hashim Thaci erhoben, der sich derzeit vor einem internationalen Sondergericht verantworten muss.
Was aussenstehende Beobachter erstaunt: In diesen «16 Monaten Einsamkeit», wie das Tessiner Radio RSI es dieser Tage nannte, hat keines der mit der Sache befassten Mitglied des Bundesrats je mit Marty Kontakt aufgenommen. Sei es auch nur, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Namentlich auch Aussenminister Ignazio Cassis nicht, der nicht nur der FDP angehört wie Marty, sondern wie dieser aus dem Kanton Tessin stammt.
In der Sendung «Mille Voci» vom letzten Mittwoch staunte der RSI-Journalist, dass Cassis angegeben habe, er wisse «wenig bis nichts» über den Fall. Auf die Frage, ob er sich da nicht im Stich gelassen fühle, antwortete Marty, der als Gast in der Sendung war, dass sich der Bundesrat mindestens zwei Mal mit dem Fall befasst habe. Im Dezember 2020, als er eine Spezialeinheit der Armee zu Martys Schutz aufgeboten habe. Und im August 2021, als der Bundesrat die Bundesanwaltschaft ermächtigte, ein Strafverfahren einzuleiten. Es könne sich also kein Bundesrat auf Unwissen berufen.
Das Problem sei, sagte Marty in der Sendung, dass man sich aus politischen Gründen darauf beschränke, das Ziel, also ihn zu beschützen, aber keine wirkliche Strategie habe, die Bedrohung auszuschalten. Zum Rechtsstaat gehöre aber, dass man die Kriminellen verfolge, die nach dem Leben anderer trachteten, sagte Marty. «Deprimierend» sei, dass keiner der Politiker, «die in diesem Fall entschieden, dass die politischen Überlegungen wichtiger sind als die rechtsstaatlichen», ihm eine Erklärung dafür gaben. Die Vermutung ist, dass der Bundesrat auf der Bremse steht, weil er es sich mit den Serben aus aussenpolitischen Überlegungen nicht verderben will.
Davon ging offenbar auch die Bundesanwaltschaft aus, die offenbar in einer Art vorauseilendem Gehorsam acht Monate brauchte, bis sie beim Bundesrat endlich die Ermächtigung zur Strafverfolgung einholte. Dabei lagen «alle Fakten» schon im Dezember 2020 auf dem Tisch, wie Marti in der Radiosendung sagte. Auch Namen von angeblich in die Verschwörung verwickelten Personen waren dem Vernehmen nach damals bekannt.
Aber warum nahmen das EDA, nahm der EDA-Chef nie Kontakt mit Marty auf? Das Aussendepartement hält auf Anfrage fest, man nehme die Sache sehr ernst und stehe in Kontakt mit den federführenden Behörden wie Bundesanwaltschaft und Fedpol, die ihrerseits regelmässig Kontakt mit Marty hätten.
Franco Cavalli, früherer Tessiner SP-Nationalrat und Vertrauter von Marty, ortet tiefer liegende Gründe. Der als sehr unabhängig geltende Marty, der eine hohe Meinung vom Staat habe, sei unbeliebt in der heutigen FDP. Vor den Bundesratswahlen 2017 habe sich Marty keinen Hehl daraus gemacht, dass er nicht für Cassis, sondern für die Tessiner FDP-Frau Laura Sadis war. Marty «war zudem immer sehr kritisch gegenüber Banken, was in der FDP auch nicht gut ankam.» Auch bei der Konzernverantwortungsinitiative habe sich Marty gegen die FDP gestellt und deren Justizministerin Karin Keller-Sutter stark kritisiert, stellt Cavalli fest.
Zahlt Dick Marty also auch den Preis für seine (parteipolitische) Unabhängigkeit, für seine häufig unbequemen Positionen?
Auch Justizministerin Karin Keller-Sutter nahm nie Kontakt mit Marty, wie ihr Departement bestätigt. Die Departementschefin kenne Marty nicht persönlich, und es habe ihrerseits noch nie einen Kontakt zu einer Schutzperson gegeben. Um den grösstmöglichen Schutz zu gewährleisten, stünden nur die direkt und operativ in den Schutz Involvierten mit der geschützten Person in Kontakt. Die Information der Departementschefin sei in diesem Fall nur deshalb erfolgt, weil die Tessiner Kantonspolizei um Unterstützung der Armee ersucht habe. «Die Departementschefin stellte dem Bundesrat den Antrag für den befristeten Einsatz der Armee, um den Schutz von Dick Marty sicherzustellen», so das EJPD.
Immerhin ein Bundesrat meldete sich in seinen Ferien bei Marty und besuchte ihn dem Vernehmen nach im Tessin: Innenminister Alain Berset (SP). Sie sind seit ihrer gemeinsamen Zeit im Ständerat befreundet. (aargauerzeitung.ch)