Zahlen zum Prämien-Wachstum machen wieder die Runde. Vergangene Woche legte CSS-Chefin Philomena Colatrella gegenüber dieser Zeitung offen, dass die Kosten 2021 beim grössten Versicherer der Schweiz um 5.1 Prozent gewachsen sind. Verena Nold, Direktorin des Krankenkassenverbands Santésuisse, legte am Samstag noch einen oben drauf und warnte in den Tamedia-Zeitungen von einem Prämienwachstum im zweistelligen Bereich.
Auf was müssen wir uns da gefasst machen? Thomas Christen, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Gesundheit, nahm die Prämien-Diskussion zum Anlass, um die Nerven etwas zu beruhigen - und um Werbung zu machen.
Zwar wagte Christen noch keine Vorhersage, wie stark die Prämien 2023 steigen werden. Doch die Gesetzeslage ist klar, wie er sagt: «Die Prämien müssen die Kosten decken.» Wenn also die Kosten im Gesundheitswesen um 5.1 Prozent steigen, folgen die Prämien bald. In welchem Ausmass lässt sich heute indes nur schwer prognostizieren. Denn erstens ist für die Schätzung der Kosten 2023 auch deren Entwicklung 2022 massgebend. Zweitens ist unklar, wie üppig die Reserven der Krankenkassen sind und wie viel sie davon zur Dämpfung des Prämienanstiegs einsetzen wollen. Und drittens steht noch die drei-jährliche Überprüfung der Medikamentenpreise an, welche die Kosten etwas drücken sollte. Gleichzeitig will der Bundesrat die Tarife für Laboranalysen senken und so weitere Einsparungen ermöglichen.
Dass 2021 und 2022 die Kosten wieder stärker steigen, ist auch dem ausserordentlichen Coronajahr 2020 geschuldet. Sowohl das BAG wie auch die Versicherer stellen einen Nachholeffekt fest. Behandlungen mussten 2020 wegen des Operationsverbot aufgeschoben werden, Kontrolltermine wurden verlegt - und auch die Patienten und Ärzte übten Zurückhaltung im ersten Pandemiejahr. Die Gesundheitskosten pro Person gingen in der Folge zurück. «Der Kostenanstieg 2021 relativiert sich, wenn wir 2020 dazunehmen», sagt Christen. Das Wachstum über beide Jahre liege unter drei Prozent.
Geht es nach der Meinung von Experten, liegt das Kostenwachstum im Bereich des medizinisch erklärbaren. Doch das ist nicht der springende Punkt, wie BAG-Vize Thomas Christen sagt. «Es muss alles versucht werden, um die Kosten zu dämpfen.» Denn die Prämien seien im Unterschied zu den Löhnen in den letzten 20 Jahren stark gestiegen, die Belastung für die Bevölkerung wuchs. Zudem sei das Abflachen des Kostenwachstums eine Folge verschiedener Massnahmen und Reformen.
Die Politik verfüge weiterhin über einen starken Hebel, dies zu korrigieren: Die Umsetzung des Massnahmenpakets des Bundesrats. Doch dieses steht zumindest teilweise in Konkurrenz mit anderen Reformen, die nahe am Ziel sind. Für Curafutura-Direktor Pius Zängerle ist deshalb klar: «2022 wird ein Jahr der Entscheidungen.» Tatsächlich stehen drei grosse Gesundheitsreformen an, die wesentlich darüber entscheiden, wie das System in Zukunft aussehen wird.
Da ist zunächst der Ärztetarif Tardoc. Seit mehr als tausend Tagen liegt dieser beim zuständigen Bundesrat Alain Berset auf dem Tisch. Gegen viele Widrigkeiten haben die Ärztevereinigung FMH und der Versicherungsverband Curafutura diesen vor drei Jahren eingereicht. Seither haben sie ihn auf Wunsch des Bundesrats drei Mal nachgebessert - und sind den gesetzlichen Anforderungen nachgekommen. Der Tarif ist zur Umsetzung bereit, wartet aber auf den Segen des Bundesrats. Laut BAG-Vizedirektor Christen soll dieser noch in diesem Halbjahr darüber befinden.
Das klingt wenig spektakulär. Doch die Reform ist für die Branche gewaltig, 13 Milliarden Franken werden neu verteilt. Deshalb ist der Tarif auch seit Jahren ein Zankapfel: Unter den Ärzten, unter den Versicherungsverbänden und den Spitälern hat er Zwietracht gesät. Eine gemeinsame Lösung war lange nicht absehbar, Bundesrat Berset verlor zwischenzeitlich die Geduld und griff in den veralteten Tarif Tarmed ein. Das rüttelte die Ärzte wach. Sie sind daraufhin über ihren Schatten gesprungen und haben Zugeständnisse gemacht, um den Fehlanreizen gespickten Tarif Tarmed abzulösen.
Sollte der Bundesrat den Entscheid weiter verzögern oder sich gegen den Tardoc entscheiden, hätte dies weitreichende Folgen für das Gesundheitswesen, das auf einem partnerschaftlichen Modell zwischen Versicherern und Leistungserbringern aufbaut. Dieses Modell wäre klar in Frage gestellt. Denn wer soll dann einen neuen, besseren Tarif bauen? Das BAG? Die Kantone? Unbestritten ist nämlich, dass der aktuelle Tarif ausgedient hat. Er ist veraltet, aber da sich die Entwicklung der ambulanten Pauschalen massiv verzögert, ist er die einzige Alternative.
Die Diskussion über die Einführung einer einheitlichen Finanzierung reicht noch weiter zurück. Seit 2009 liegt ein Vorstoss von Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel (Mitte, AG) vor. Im Grundsatz will dieser künftig vermeiden, dass die Finanzierung über die Art eines medizinischen Eingriffs entscheidet. Aktuell fördern die Kantone die ambulante Behandlung, weil es einerseits dem Patienten dient, andererseits aber auch die Staatskasse entlastet. Denn an stationäre Leistungen zahlen die Kantone 55 Prozent, an ambulante nichts. Die Verlagerung hat zur Folge, dass zwar im grossen Ganzen die Kosten gesenkt werden können, weil die ambulanten Behandlungen günstiger sind. Entlastet werden aber die Kantone, nicht die Prämienzahler.
Die Reform ist seit 2019 in der Gesundheitskommission des Ständerats blockiert. Offenbar geht es noch um Details. Denn die ultimative Forderung der Kantone, welche die zusätzlichen Kosten scheuen, ist angekommen: Nebst den stationären und ambulanten Leistungen soll auch die Pflege in die einheitliche Finanzierung aufgenommen werden. Gegen eine sofortige Aufnahme der Pflegeleistungen in das Reformprojekt spricht nebst den Kosten auch die komplexe Finanzierung, die jeder Kanton unterschiedlich handhabt. Die Lösung ist jedoch skizziert: Die Pflege soll zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen werden. Es besteht darum eine kleine Hoffnung, dass das Parlament die Reform noch dieses Jahr zum Abschluss bringt. Sie würde andere wichtige Entwicklungen begünstigen, etwa die für Patienten vorteilhafte integrierte Versorgung.
Schliesslich gibt es verschiedene einzelne Massnahmen, die der Bundesrat in mehreren Paketen gebündelt hat. Einzelne Teilpakete sind schon durchs Parlament. Doch nachdem dieses einen radikalen Wechsel bei der Festlegung der Generikapreise abgelehnt hat, bleibt als grosses Kernstück der Kostendämpfung noch die Zielvorgabe bei den Kosten. Bei diesem Thema herrscht aktuell ein Chaos. Der Bundesrat fährt zweigleisig. Er hat einerseits im Massnahmenpaket 1.b einen Gesetzesartikel zum Kostenmonitoring vorgeschlagen. Gleichzeitig hat er Kostenziele als indirekten Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei formuliert. Aktuell beraten beide Kammern des Parlaments die Ideen des Bundesrats parallel, mit unterschiedlichem Erfolg. Die Idee, in verschiedenen Gesundheitsbereichen Kostenziele zu definieren und diese regelmässig zu überprüfen, kommt nicht gut an. Vor allem, weil bei einem allfälligen Verfehlen dieser Ziele, Massnahmen diskutiert und ergriffen werden, falls die Entwicklung nicht erklärbar ist.
Auch in diesem Geschäft stecken viele Interessen und Emotionen. Ärztepräsidentin Yvonne Gilli wehrt sich vehement gegen die Zielvorgaben und droht mit einem Referendum. Curafutura-Direktor Pius Zängerle sagt, sie werde dieses nicht alleine ausfechten müssen. Es gehe um die Zukunft des Gesundheitssystems. Zängerle: «Unsere Erfahrung zeigt: Regulierung führt meist zu neuer Regulierung, weil nachfolgend Korrekturmassnahmen beschlossen werden müssen. Zudem gibt es einen riesigen administrativen Aufwand. Wir wehren uns gegen die zunehmende Zentralisierung.»
Derweil hat die ständerätliche Kommission einen Entscheid zum Kostenmonitoring vertagt, damit sich die «Gemüter etwas abkühlen» können. Die nationalrätliche Kommission hat am Freitag einen Gegenentwurf zur Kostenbremse-Initiative skizziert, den niemand wirklich versteht: Keine Kostenziele dafür neue subsidiäre Kompetenzen für den Bundesrat. Für Zängerle ist die Änderung ein «Ausdruck von Irritation». Er sagt: «Viele Projekte der Kostendämpfung wie die Zulassungssteuerung oder das Qualitätsgesetz sind in Umsetzung.» Die einheitliche Finanzierung sowie der Tardoc-Entscheid würden wohl bald folgen. Anders formuliert: Erst die bereits beschlossenen Reformen umsetzen und jene beschliessen, die bereits in der Pipeline sind.
Sollte das Parlament sich gegen die Zielvorgaben entscheiden, bleibt uns die Diskussion wohl noch erhalten: Dann müsste das Volk über die Kostenbremse-Initiative abstimmen. (aargauerzeitung.ch)
Da es bei den Leistungen keinen Unterschied gibt, liegt dort auch einiges Einsparpotential, da die Administration zusammengelegt und die Aufwände für das gegenseitige Abjagen von "guten Risiken" eingespart werden kann.