Es wird ein schwieriger 1. Mai. Für Gewerkschaften und Linke und für die Polizei. Die Organisatoren des Tages der Arbeit müssen in Zürich, wo vor zwei Jahren 16000 Menschen demonstrierten, dafür sorgen, dass an einzelnen Kundgebungen nicht mehr als 100 Personen teilnehmen.
So sieht es die kantonale Coronaverordnung vor. Der sonst oft gehörte Slogan «Solidarisieren, mitmarschieren» ist quasi verboten. Die Polizei muss die Obergrenze kontrollieren. Eine Aufgabe, welche die Polizeidirektoren im letzten Sommer als «praxisfremd» bezeichneten.
Es wird auch ein ungleicher 1. Mai. Während in Basel, wo traditionell ebenfalls viele Menschen teilnehmen, ohne Limit demonstriert werden darf, gilt auch in Bern eine Obergrenze von 100.
Die Zürcher Partei Alternative Liste sowie Aktivisten gehen gegen die Obergrenze juristisch vor. Gegenüber dem Verwaltungsgericht argumentieren sie, die Limite verstosse gegen Verfassung und Bundesrecht. Die aktuelle Bundesverordnung nimmt mit Verweis auf Grundrechte und staatsrechtliche Überlegungen «politische Kundgebungen» explizit von Versammlungsbeschränkungen aus.
In der Erläuterung ist der 1. Mai sogar explizit erwähnt. Zürich und Bern sehen sich aber im Recht, weil die Verordnung es den Kantonen ermöglicht, Veranstaltungen stärker einzuschränken. Ob solche Limiten nur für Konzerte und Eishockeyspiele oder auch für Demonstration vorgesehen sind, ist umstritten. Die beiden Kantone argumentieren zudem mit der Gesundheit. Aus epidemiologischer Sicht sind die Sonderregeln allerdings fragwürdig. Zürich liegt bei den Infektionszahlen im Schweizer Durchschnitt, Bern steht sogar relativ gut da.
Die Zürcher Aktivisten wollten mit ihrer Eingabe eine aufschiebende Wirkung erzielen und 1.-Mai-Demos ermöglichen. Das Gericht entschied diese Frage aber nicht mehr rechtzeitig vor dem Tag der Arbeit. Der Streit in Zürich ist nur die neueste Episode im Konflikt um die Frage, ob und wie während einer Pandemie demonstriert werden darf.
Als der Bundesrat im März 2020 die Regeln für den Lockdown formulierte, fehlten Kundgebungen in der Verordnung. Vor dem letztjährigen Tag der Arbeit wurde darum fieberhaft diskutiert, was erlaubt ist. Das Bundesamt für Gesundheit signalisierte, Protestaktionen in kleinen Gruppen seien möglich. In Zürich griff die Polizei trotzdem hart durch. Selbst herrenlose Transparente wurden beschlagnahmt, Protestierende abgeführt. Gleichzeitig demonstrierten in Basel 1000 Personen unbehelligt.
Eine Woche später konnten Coronaskeptiker im eben noch strengen Zürich demonstrieren. Der Polizeikommandant räumte darauf Fehler ein. Konfusion total. Trotzdem dauerte es noch bis zum 6. Juni, bis Kundgebungen Erwähnung fanden in der Coronaverordnung des Bundes. Die damals erlassene Obergrenze von 300 Personen wurde sogleich von einer «Black Lives Matter»-Demonstration überschritten.
Wegen einer Frage aus der SVP-Fraktion musste sich selbst der Bundesrat zur Zürcher Angelegenheit äussern. Die Sache erledigte sich temporär, weil der Bundesrat ab dem 20. Juni Kundgebungen wieder unbegrenzt zuliess. Allerdings nur mit Maske, was zum nächsten Problem führte. Zudem spielte von nun an der Kantönligeist eine grössere Rolle.
Am 20. März 2021 zogen 8000 Coronaskeptiker durch Liestal. Die meisten ohne Maske. Gleichzeitig kesselte die Berner Polizei Massnahmengegner in der Hauptstadt ein. Es schien, als wäre auf dem Land demonstrieren erlaubt, in der Stadt aber verboten. Das änderte sich nach Liestal.
Der Kanton Uri verweigerte einer Coronademo in Altdorf die Bewilligung und erliess gleich noch eine kantonale Obergrenze von 300 Personen. Uri begründet die Einschränkung epidemiologisch. Der Kanton hat schweizweit die höchsten Ansteckungszahlen. Gegen die Obergrenze rekurrieren die Organisatoren am Bundesgericht. Ihnen geht es neben der Demonstrationsfreiheit auch um freie Meinungsbildung vor der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz vom 13. Juni.
Die geplante Kundgebung hätte Auftakt für die Gegenkampagne sein sollen. Der Rechtsvertreter der Organisatoren, Artur Terekhov, überlegt sich bei einem knappen Ausgang eine Abstimmungsbeschwerde. Weitere juristische Auseinandersetzungen stehen im Kanton Aargau bevor, weil eine Demonstration für den 8. Mai nicht bewilligt wurde.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beobachtet die Situation mit Sorge. In ihrem Bericht zur Schweiz heisst es: «Zu Beginn der Pandemie schränkte die Polizei das Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismässig stark ein.» Nun sei die Lage etwas besser. «Wir sind aber besorgt über harsche Einsätze gegen einzelne Demonstrierende», sagt Sprecher Beat Gerber. Die Organisation verlangt eine unabhängige Untersuchung.
Der Basler Rechtsprofessor Markus Schefer beurteilt Obergrenzen für politische Versammlung zwar als rechtlich zulässig, aber unnötig. «Jede Demonstration durchläuft ein Bewilligungsverfahren. Ich sehe nicht ein, warum nicht für jeden Einzelfall konkrete Auflagen formuliert werden, die der aktuellen epidemiologischen Lage und dem Charakter der Veranstaltung gerecht werden», sagt er. Zudem erscheint ihm das Maximum von 100 Personen reichlich tief angesetzt. «Ich sehe hier eine beträchtliche Einschränkung der Demonstrationsfreiheit.»
Während Amnesty International sich Sorgen macht, dass nach der Pandemie nicht mehr alle Grundrechte vollständig wiederhergestellt werden, kann Rechtsprofessor Schefer der Sache auch Gutes abgewinnen. Er beobachtet, dass vor allem Menschen gegen Coronamassnahmen auf die Strasse gehen, die sonst nie demonstrieren. «Gut situierte Bürger, die unter normalen Bedingungen keine staatlichen Eingriffe beklagen, sehen sich nun in ihren Grundrechten eingeschränkt. Dies schärft das Bewusstsein für die fundamentale Bedeutung solcher Rechte». In letzter Zeit seien Grundrechtsdiskussionen vor allem im Zusammenhang mit Minderheiten gestanden. Nun würden sie wieder zum Mainstreamthema. «Das ist langfristig eine gute Entwicklung», sagt Schefer.
Woher kommen die helvetischen Mühen mit Demonstrationen? Schefer vermutet, dass es mit dem rebellischen Charakter von Strassenprotesten zu tun hat. «Wahrscheinlich wird damit so streng umgegangen, weil das Bedürfniss nach Ruhe und Ordnung in Zeiten der Pandemie besonders gross ist.»
Keiner demonstriert für bessere Bedingungen für das Pflegepersonal, gschämig!
Da ist im Gegenteil eine riesige Portion Egoismus, Trotz und Selbstgerechtigkeit dabei. Gesetze, die sie betreffen, sind unrecht. Alle anderen Gesetze sollen aber bitte hart durchgesetzt werden.