In der Pause, bevor das Urteil fällt, sitzt Daniel* an einem Tisch draussen vor dem Café «Rendezvous» in Unterkulm, er raucht. Er sei kein Schlimmer, sagt er. Er wolle doch eigentlich nur ein romantisches Leben. Daniel ist 29 Jahre alt. Sein Vorstrafenregister ist vier Seiten lang. Immer wieder sitzt er vor den Richtern. Immer wieder sagt der Staatsanwalt: «So geht es nicht weiter.»
Er hat schon an der letzten Gerichtsverhandlung eine stationäre Massnahme für Daniel gefordert. Er wird es diesmal wieder tun. Diese Behandlung auf einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie kann lange dauern – Jahrzehnte sogar. Die Massnahme nach Artikel 59 wird darum auch kleine Verwahrung genannt. Der Staatsanwalt ist überzeugt, dass die Therapie eine gute Lösung wäre. Denn die Strafe stehe bei Daniel nicht im Vordergrund.
Daniel hat ganz andere Pläne. Er hat sie mitgenommen ans Gericht – Liebesbriefe, viele Liebesbriefe. Sobald er draussen ist, will er sich impfen lassen, nach Afrika fliegen und dort die Frau heiraten, die ihm diese Liebesbriefe geschrieben hat, er will sie in die Schweiz nehmen, sich eine Arbeit suchen.
Er stellt sich vor, dass er dann abends mit ihr Znacht isst, am Wochenende einen Ausflug macht – an den Vierwaldstättersee zum Beispiel. Gesehen hat er sie noch nie. Dass sie sich lieben, davon ist er überzeugt.
Vor Gericht stand Daniel in den letzten zwei Jahren dreimal: Das erste Mal wegen eines Überfalls, diesen Februar wegen eines Ausrasters im Zug, bei dem er drohte, den Kontrolleur zu schlagen, in der darauffolgenden Untersuchungshaft attackierte er einen Vollzugangestellten. Diesmal ging es um einen Ausraster in der Apotheke.
Laut Anklageschrift drohte er dort mit einem Anschlag, wenn er nicht sofort seine Medikamente bekomme. Ausgelöst hat den Ausraster die Aufforderung der Apothekerin, die Musik auf dem Handy leiser zu drehen. Nachdem er sein Medikament bekommen hatte, ging er nach draussen und rauchte eine Zigarette.
Dort wurde er verhaftet. Zehn Tage später beschimpfte Daniel von seinem Velo herunter einen Mann auf der Strasse als Missgeburt und Hurensohn. «Muss ich dich niederschlagen?», soll er gefragt haben. Dann warf er sein Velo weg, ging auf den Mann zu, sagt, er müsse jemanden niederschlagen, damit er endlich in den Knast zurückkönne.»
Der Mann konnte Daniel beruhigen. Seine Anzeige hat er zurückgezogen. Seither ist Daniel in Königsfelden, in Sicherheitshaft. Seit sieben Monaten also. Die Therapie sei gut. Er habe schon viele Fortschritte gemacht, früher seien seine Ausraster viel schlimmer gewesen, sagt er.
Daniel ist bleich, muskulös, tätowiert und wortgewandt. Er wurde ein paar Tage nach seiner Geburt von seiner drogensüchtigen Mutter bei den Grosseltern abgegeben. Mit drei Jahren wurde er weitergereicht zum Götti, mit 11 Jahren zum Heimkind, mit 14 der erste Selbstmordversuch. Er konsumierte Drogen – eine Zeit lang waren es zehn Gramm Kokain täglich, jetzt hin und wieder «ein Fädeli».
Daniel hat Angst, dass er in eine stationäre Massnahme kommt. «Wer weiss, wann ich dann wieder rauskomme?» Er habe Ziele im Leben, die stationäre Massnahme sei darum scheisse. Er wolle raus, sich impfen lassen, nach Afrika zu seiner Frau.
Der Staatsanwalt sagt: «Wer Daniel wirklich helfen will, muss ihm sagen, dass das ein Blödsinn ist.» Alle im Gerichtssaal wollen Daniel helfen, jeder anders. Die Mutter seines Kollegen glaubt, dass es ihm helfen würde, wenn er mit ihren Hunden spazieren würde – «eine Therapie bei uns zu Hause, das wäre gut, gäll».
Eine Bekannte von Daniel ist sicher, dass ihm eine Frau an der Seite helfen würde – «Daniel hat nie Liebe bekommen, er braucht das. Ich auch, ihr alle auch», sagt sie. Der Staatsanwalt glaubt, dass nur eine stationäre Therapie helfen kann.
Eine stationäre Massnahme wiederum findet Daniels Verteidiger völlig unverhältnismässig. Er fände es das Beste, wenn Daniel zu Hause leben und in einer Institution eine Anlehre machen könnte. Daniel selber träumt vor allem von seiner Liebe in Afrika.
Vor der Urteilsverkündung braucht er eine Kopfwehtablette. Er ist zuversichtlich, dass er freikommt. Sein Anwalt auch. Der Staatsanwalt ist zuversichtlich, dass eine stationäre Therapie angeordnet wird.
Es dämmert bereits, als Daniel vom Vorwurf der Nötigung in der Apotheke freigesprochen wird. Rechtlich erfüllt das, was vorgefallen ist, den Tatbestand nicht, wie Gerichtspräsident Christian Märki begründet. Darum bleiben von der Anklage bloss noch zwei Übertretungen übrig – weil er Drogen konsumierte und unerlaubterweise Softguns bei sich zu Hause hatte. Das erledigt sich nun mit einer Busse von 800 Franken.
Eine stationäre Therapie hat das Gericht schon bei der letzten Verhandlung als unverhältnismässig abgewiesen und stattdessen eine ambulante Massnahme angeordnet. Auch jetzt schicken die Richter Daniel nicht in eine geschlossene Psychiatrie.
Aus drei Gründen, wie Gerichtspräsident Märki erklärt: Es gibt nach dem Freispruch keine Tat mehr, kein aktuelles psychiatrisches Gutachten und keine Verhältnismässigkeit. «Das Gericht kann nicht einfach etwas anordnen, was sinnvoll scheint. Wir müssen uns an die Zuständigkeiten und die gesetzlichen Vorgaben halten.»
Der Staatsanwalt will nicht, dass Daniel rauskommt. Er fürchtet, dass er dann wieder straffällig wird. Darum hat er Berufung eingelegt. Daniel muss zurück in Sicherheitshaft und darf erst nach Hause, wenn das Obergericht gleich entscheidet wie die Richter in Kulm. Daniel ist zuversichtlich, dass er sich bald impfen lassen kann.
*Name geändert