Schweiz
Gesellschaft & Politik

Rassismus und Gewalt: Experte über Probleme der Schweizer Polizei

Missstände in Schweizer Städten: Hat die Polizei ein Rassismus-Problem?

In der Waadt starben vier schwarze Menschen bei Polizeieinsätzen, auch andere Korps stehen am Pranger. Ein profilierter Polizei-Ausbildner sagt, wieso rassistische Vorurteile bei Polizisten entstehen und welche Massnahmen es nun braucht.
02.07.2024, 21:36
julian Spörri / ch media
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Es ist die zweite Runde in einem Gerichtsprozess mit politischem Sprengpotenzial: Am Montag startete im Fall «Mike» die Berufungsverhandlung. Dabei geht es um den 2018 verstorbenen Mike Ben Peter, der bei einer Polizeiintervention in Lausanne einen Herzstillstand erlitt, während ihn Beamte am Boden fixiert hielten. Das Lausanner Strafgericht sprach die sechs angeklagten Stadtpolizisten letzten Sommer vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei.

[Editor's note: photo mise-en-scene] Ein Polizist und eine Polizistin der Walliser Kantonspolizei steigen aus dem Polizeiauto aus, fotografiert am 27. Oktober 2021 in Raron, Wallis. (KEYSTONE/Gae ...
Die Polizei steht im Fall «Mike» im Feuer der Kritik von Aktivistinnen und Aktivisten.Bild: KEYSTONE

Die Familie des Opfers hat gegen das Urteil rekurriert. Sie sieht im Tod ihres Angehörigen einen (weiteren) Fall von Rassismus. In der Waadt sind innert fünf Jahren vier Schwarze bei Polizeieinsätzen gestorben. Darunter ist auch der Zürcher Nzoy, der 2021 psychisch angeschlagen am Bahnhof in Morges VD einen Polizisten mit einem Messer bedrohte. Er wurde niedergestreckt und erhielt minutenlang keine Hilfeleistung.

Auch in der Deutschschweiz drängt sich die Rassismus-Frage auf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte Anfang Jahr, dass die Personenkontrolle eines Schweiz-Kenianers durch die Stadtpolizei Zürich diskriminierend war. Sie sei aufgrund seiner Hautfarbe erfolgt – Stichwort Racial Profiling. Letzte Woche wurde der Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt freigestellt, weil ein externer Untersuchungsbericht eklatante Missstände im Korps ans Licht brachte, darunter Vorfälle von Rassismus.

Was geht da vor? Und welche Lösungen gibt es? Zeit für ein Gespräch mit Frédéric Maillard, einem der profiliertesten Polizei-Analysten des Landes.

Polizei-Experte Frédéric Maillard.
Polizei-Experte Frédéric Maillard.Bild: Niels Ackermann / Lundi13

Wie wichtig ist es, dass sich die Polizeien der Frage nach Rassismus in ihrem Korps stellen?
Frédéric Maillard: Sehr wichtig. Ich beobachte leider zusehends eine Umkehrung des polizeilichen Auftrages. So gibt es Polizeien, die ihr Handeln einzig auf die Unruhestifter ausrichten, obwohl sie primär den Schutz des Gemeinwohls im Kopf haben sollten. Diese Mentalität ist problematisch, weil sie den Nährboden für Rassismus bietet. Polizistinnen und Polizisten dürfen nicht im Krieg sein, sondern müssen dem Frieden dienen.​

Können Sie ein Beispiel machen?
Wenn ein Polizist nur das vordergründige Problem sieht, versteht er nicht, warum in Lausanne Nordafrikaner den Drogenmarkt dominieren. Nordafrikaner sind nicht von Natur aus Drogendealer. Vielmehr führt die aktuelle geopolitische Konstellation dazu, dass der Drogenhandel über die afrikanische Migration läuft. Faktoren wie Armut, Krieg und die Mafia sind dafür entscheidend. Identifiziert ein Polizist die Phänomene in all ihrer Komplexität, ist er effektiver und dient so der Allgemeinheit.​

Ist es nicht unausweichlich, dass Vorurteile entstehen, wenn man tagtäglich mit Drogendealern einer Ethnie konfrontiert ist?
Ja, klar. Ich verstehe, dass Polizisten unter diesen Umständen rassistische Neigungen entwickeln. Darum kritisiere ich auch nicht einzelne Individuen, sondern die Institution. Sie weist bestimmte Charakteristiken auf, die Rassismus begünstigen – besonders dann, wenn die Überzeugung vorherrscht, dass Übeltäter «gejagt» werden müssen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass ein Polizist eine ausserordentliche Macht hat. Nicht einmal eine Richterin kann auf der Strasse jemanden kontrollieren. Zudem ist die Polizei zwangsweise eine geheim arbeitende Organisation.

Haben Schweizer Polizeien ein Rassismus-Problem?
In den Polizeikorps hierzulande bestehen rassistische Neigungen, sie sind aber nicht generalisierbar. Die strukturelle Problematik ist in allen rechtsstaatlichen Polizeien die gleiche. Unterschiede zwischen den Ländern gibt es, weil Rassismus etwa in den USA aus historischen Gründen tiefer im System verankert ist.​

Das Ausmass in der Schweiz lässt sich mangels Statistiken nicht beziffern.
Das stimmt und das macht mich wütend. Seit Jahren fordere ich die Einrichtung unabhängiger Ombudsstellen, die Fälle von Polizeigewalt und Racial Profiling überprüfen. Soziologinnen, Ex-Polizisten, Journalistinnen und weiteren Fachpersonen könnten dort Einsitz nehmen. Ich weiss von mehreren Polizeikommandanten, die dieser Idee offen gegenüberstehen. Widerstand kommt dagegen von mittleren Polizeikadern.​

Apropos Unabhängigkeit: Bei den vier schwarzen Todesopfern in der Waadt ermittelte die kantonale Staatsanwaltschaft gegen die Beamten. Wie beurteilen Sie dies?
Die Polizei sagt, dass die Justiz unabhängig ist. Strukturell gesehen trifft dies zu, aber in der Praxis ist es falsch. Die Wege zwischen Justiz und Polizei sind kurz. Die Staatsanwaltschaft arbeitet mit den Unterlagen, die ihr die Polizei rapportiert. Eine unabhängige Untersuchungskommission würde das Problem lösen. Wenn sie und nicht die Polizei die Informationen zusammenträgt, spielt es keine Rolle mehr, welche Staatsanwaltschaft federführend ist.

Nach den Freisprüchen im Fall «Mike» kaperten Aktivisten das Gericht. Sie trauen der Justiz nicht mehr.
In diesen Kreisen gibt es einen Vertrauensverlust. Eine unabhängige Anlaufstelle könnte die Debatte beruhigen. Jemandem zuzuhören, bedeutet, Misstrauen und Übertreibungen vorzubeugen. Denn klar ist: Genauso wie die Polizeien strukturelle Probleme ausblenden, gibt es auf der Seite der Polizeikritiker eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Hört man ihnen zu, könnte man meinen, alle Polizisten seien unsensibel und widerspenstig. Das stimmt nicht.

Les soutiens de Mike Ben Peter reagissent a l'interieur du batiment apres la lecture du verdict du proces des six policiers accuses de l'homicide de Mike Ben Peter devant le Tribunal correct ...
Nach den Freisprüchen machten dutzende Aktivisten im Vorraum des Gerichtssaals Lärm und skandierten Parolen.Bild: keystone

Ist es denn aus juristischer Sicht so schwierig, mögliche Fälle von Polizeigewalt aufzuklären?
Ja, die Unterscheidung zwischen Notwehr und fahrlässiger Tötung ist kompliziert. Es gibt nicht richtig oder falsch, sondern es hängt alles vom Kontext und den zur Verfügung stehenden Tools ab. Diesbezüglich bin ich der Meinung, dass die Schweizer Polizeien ihre Einsatzkräfte mit Tasern ausrüsten sollten, wie dies in einigen Kantonen schon getan wird. Hätten die Patrouillen in Morges über Taser verfügt, gäbe es ein Todesopfer weniger. Der Einsatz der Schusswaffe lässt sich reduzieren.​

Was halten Sie von weiteren Massnahmen? Die Stadtpolizei Zürich hat seit Anfang Juli offiziell Bodycams im Einsatz; das Lausanner Parlament hat einem Vorstoss zugestimmt, der die Ausstellung einer Quittung bei jeder Polizeikontrolle fordert. Darauf sollen auch ihr Grund und die Nationalität des Kontrollierten vermerkt sein.
Diese Massnahmen sehe ich skeptisch. Man muss wissen, dass Polizistinnen und Polizisten schon heute 15 Kilogramm um ihre Taille tragen und viel Administrativarbeit erledigen. Es bringt nichts, ihnen immer mehr aufzubürden, vor allem wenn das Grundproblem bleibt. Anstatt eine Quittung auszustellen oder eine Kamera umzuhängen, sollte in der Ausbildung der Blick auf andere hinterfragt und die Fähigkeit, Gefahren richtig einzuschätzen, trainiert werden. Kommt hinzu: Je mehr Kontrolle es gibt, desto stärker wächst der Anreiz, sie zu umgehen – etwa indem man «vergisst», die Bodycam einzuschalten. Das liegt in der Natur des Menschen.

Welche Lösungen propagieren Sie?
Die Ausbildung ist das A und O. Leider ist ihre Länge in der Schweiz mit zwei Jahren geradezu lächerlich. Danach fehlt oft die Zeit für Weiterbildungen. Vielerorts sind Polizeien unterbesetzt; wegen Fussball-Ausschreitungen braucht es Extraschichten. Trotzdem gibt es Wege, um rassistische Neigungen in den Polizeikorps zu bekämpfen. Erstens, muss die Alterslimite fallen, wie dies zum Beispiel in Bern schon lange der Fall ist. Wenn ein 50-Jähriger noch in die Polizei einsteigen kann, profitiert das Korps von Lebenserfahrung von ausserhalb der polizeilichen Blase.

Und weiter?
Zweitens, sollten sich Polizeien regelmässig einer externen Supervision unterziehen. So liessen sich etwa die durchgeführten Personenkontrollen besprechen. Drittens, müssen die Korps diverser werden. Wenn sich die Zahl Polizisten mit schwarzer Hautfarbe in Lausanne an einer Hand abzählen lässt, ist das alles andere als repräsentativ für die Stadt – und damit ein Problem.

Und Ihr vierter Vorschlag?
Polizistinnen und Polizisten sollten in periodischen Abständen die Abteilung wechseln. Zudem schlage ich vor, dass sie alle fünf Jahre einen Stage in einem anderen staatlichen Dienst absolvieren, etwa bei der Ambulanz, im Spital oder im Asylzentrum. Das würde ihnen zu einem anderen Blick auf die Gesellschaft verhelfen, da sie sonst nur den dysfunktionalen Teil sehen. Es ist gefährlich, wenn die Polizistinnen und Polizisten unter sich bleiben, und sie dabei die Solidarität hochhalten wie in einer Familienbande. Die Mafia ist eine Familienbande, nicht die Polizei. (aargauerzeitung.ch)​

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169 Kommentare
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Andi Amo
02.07.2024 22:06registriert April 2015
Wenn in Lausanne Nordafrikaner den Drogenmarkt dominieren, wieso wird nicht da endlich mal politisch hart durchgegriffen?? Stattdessen sollen die eh schon überlasteten Polizisten mit noch mehr Papierkram & Supervisionen aufwendigst & teuer geschult werden, dass sie all die dealenden Nordafrikaner immer superkorrekt & ja nicht zu hart angehen? Was läuft!?!
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Voraus denken!
02.07.2024 22:00registriert März 2022
Wieso Vorurteile entstehen? Aus Erfahrung und Frustration.

Erfahrung weil das gewisse Klientel dem Stereotyp in 99% entsprechen.

Frustration weil die Politik der Polizei nicht die notwendigen Gesetze gibt, etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen wird die Polizei von gewissem Klientel belächelt, angespuckt und nicht ernst genommen.

Man kann mun weiterhin die Augen verschliessen und "lalala" singen oder endlich die Gesetze konsequent anwenden und wenn nötig anpassen.

Wir müssen in der Schweiz (und in Europa) endlich den Tatsachen begegnen!
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Warcellus Mallace
02.07.2024 21:59registriert August 2018
Genau deswegen sind die Korps unterbesetzt. Zahlreiche "profilierte Experten" wissen alles besser. Nach einem Freispruch kapern "Aktivisten" das Gericht. Die Rechtsprechung ist demnach von der öffentlichen Meinung abhängig und nicht von einem gerichtlichen Entscheid.
Von den tollen Experten, die alle die Verbesserung der polizeilichen Ausbildung fordern, sind die wenigstens schon einmal mit einem gewalttätigen Gegenüber in Kontakt gekommen. Dieses Gefühl wünsche ich den Experten und Medienschaffenden. Bei der Arbeit wird der Drogenhotspot wieder fokussiert, das fordert die Öffentlichkeit.
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