Warum hat das Schweizer Stimmvolk am 9. Februar die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen? Die Frage trieb das Bundesamt für Justiz derart um, dass es zu deren Klärung bei der Zürcher Forschungsstelle Sotomo eine Studie in Auftrag gab. Die Ergebnisse nahm der Bundesrat gestern zur Kenntnis – sie besagen, dass der im Vorfeld der Abstimmung viel diskutierte Dichtestress beim Volksvotum keine grosse Rolle spielte. Entscheidend war vielmehr die persönliche Wertehaltung der einzelnen Stimmbürger.
Die Erhebung stützt die Erkenntnisse aus der bereits kurz nach der Abstimmung durchgeführten VOX-Analyse, wonach der Stimmentscheid stark vom Links-Rechts-Gegensatz geprägt war. Die Studie zeigt: Je grösser die aussenpolitische Abgrenzungsorientierung, je skeptischer die Einstellung gegenüber Fremden, je wichtiger Tradition und nationale Identität, desto grösser war der Ja-Stimmen-Anteil in einer Gemeinde. In der Tendenz war die Stimmbeteiligung in nationalkonservativ orientierten Gemeinden grösser als in migrations- und öffnungsfreundlichen.
Nicht Gegenstand der Untersuchung war, in welcher Form die Kommunikation des Bundesrates, der die Initiative zur Ablehnung empfohlen hatte, Einfluss auf das Stimmverhalten der Bürger hatte. Eine Aussage des scheidenden Bundespräsidenten Didier Burkhalter wirbelt nun aber gehörig Staub auf:
sagte der FDP-Mann der Zeitung «La Liberté».
Brisant: Kurz vor der schicksalsträchtigen Abstimmung reiste Aussenminister Burkhalter für vier Tage nach Japan, um das 150-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen feierlich zu begehen. Er traf den japanischen Premier Shinzo Abe und trank Tee mit Kaiser Akihito. Nach Japan kehrte er nicht etwa in die Schweiz zurück, sondern begrüsste die Schweizer Sportler an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Sotschi.
Auf Kritik an seiner regen Reisetätigkeit reagierte Burkhalter damals mit dem Hinweis, es sei üblich, dass sich Bundesräte kurz vor einer Abstimmung zurückhielten. Vor dem Hintergrund seiner jüngsten Aussage stellt sich die Frage nun aber umso mehr, ob er wirklich alles unternommen hat, um das Volk über die bundesrätliche Position zu informieren, oder nicht vielmehr vorschnell den Kopf in den Sand gesteckt hat. Zur Erinnerung: Hätten 10'000 Personen ein Nein statt ein Ja in die Urne gelegt, wäre das ultraknappe Resultat gekippt.
Auf Nachfrage präzisiert das Aussendepartement (EDA) in Bern die brisante Interviewpassage: Burkhalter habe im Vorfeld der Abstimmung «ein sehr intensives Programm mit zahlreichen Auftritten» gehabt. Das Resultat habe er nicht etwa im Voraus gewusst, er habe «aufgrund zahlreicher Kontakte mit der Bevölkerung aber spüren können, dass sich ein Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative anbahnte».
Unter der Bundeshauskuppel beruhigt das EDA-Nachdoppeln nicht etwa die Gemüter – im Gegenteil. CVP-Präsident Christophe Darbellay attestiert Burkhalter, dass er bei der Umsetzung der Initiative «einen guten Job» mache, die Haltung, die hinter seiner Aussage stehe, sei aber «verheerend». «Wenn er das Volks-Ja offenbar hat sehen kommen, hätte er umso mehr bis zur letzten Sekunde für ein Nein kämpfen müssen», so Darbellay.
Auch SP-Fraktionschef Andy Tschümperlin ist ob Burkhalters Einschätzung «reichlich erstaunt». Einzig FDP-Präsident Philipp Müller stützt seinem Bundesrat den Rücken: «So kurz vor der Abstimmung hätten weitere Auftritte Burkhalters ohnehin nichts mehr bewirkt. Wenn man hingegen so kurzfristig eine Visite beim japanischen Kaiser platzen lässt, kann dies für eine ernsthafte bilaterale Verstimmung sorgen.»