Die Debatte rund um einheitliche und geschlechtsneutral formulierte Kleiderregeln in Stadtzürcher Badis erhitzt auch in Schweizer Medien die Gemüter. So kommentierte ein User in der watson-Kommentarspalte des Artikels «Oben ohne in Hallenbädern – bald auch in der Stadt Zürich?»:
Dafür erhält er einigen Zuspruch.
Das Natur-Argument also. Auf Männer sollen weibliche Brüste aus evolutionären Gründen attraktiv wirken, hört man immer wieder. Aber stimmt das wirklich?
Seit 1967 beschäftigt sich die Evolutionsforschung mit der Frage: Warum haben Frauen eigentlich permanent vergrösserte Brüste? Die Brüste aller anderen Säugetiere schwellen nämlich einzig während der Milchproduktion an und schrumpfen danach wieder. Welchen Zweck die menschliche Frauenbrust in dieser Form erfüllt, darüber stellten die ersten Forscher zunächst Hypothesen auf, die auf derselben Weltsicht wie jener des anonymen Kommentarschreibers basiert.
Die Brust der Frau habe sich so entwickelt, weil Frauen mit grossen Brüsten attraktiver auf Männer gewirkt hätten. Eine grosse Brust hätte den Männern nämlich gezeigt, dass eine Frau fruchtbar sei und sie seine Kinder gut ernähren könne. Die grosse weibliche Brust als Produkt der sexuellen Selektion. Die Forscher, welche diese These vertraten, waren davon überzeugt, dass Männer eine Frau aussuchten und nicht umgekehrt. Sie glaubten, die Frau sei schon immer vom Mann, dem Jäger, abhängig gewesen und musste attraktiv für ihn sein, damit er sie und ihre Kinder ernährte.
Heute sagt die Wissenschaft zu dieser Erklärung: kompletter Quatsch. Einerseits entschied die Frau darüber, mit wem sie sich paarte. Die Attraktivität des Mannes war also zentraler. Andererseits gilt die Theorie des Mannes als der Jäger und der Frau als die Sammlerin heute als widerlegt. Auch Frauen gingen zur Jagd und auch Männer sammelten. Zu Steinzeiten waren Frau und Kinder ausserdem keineswegs vom Mann als Ernährer abhängig. Der Homo sapiens lebte vielmehr in komplexen Stammes- und Verwandtschaftsstrukturen, in denen sich alle gegenseitig unterstützten.
Eine zweite Gruppe von Forschern stellte bei der Suche nach einer Erklärung für die heutige Form der Frauenbrust den eigentlichen Zweck des Organs in den Mittelpunkt: die Ernährung des Nachwuchses. Manche sagten, die weibliche Brust entwickelte sich so, damit sie bei Ressourcenknappheit als Fettspeicher angezapft werden konnte, andere glaubten, das Organ konnte in dieser Form die Milch besser erwärmen.
Eine definitive Antwort, warum Frauen als einziges Säugetier permanent grössere Brüste haben, gibt es jedoch noch immer nicht. Dafür müsste man nämlich wissen, ab wann sie sich in diese Richtung entwickelt hat. Anhand menschlicher Skelette lässt sich dieser Zeitraum jedoch nicht bestimmen.
Dass die weibliche Brust schon immer und überall Objekt der männlichen Begierde war, das lässt sich inzwischen dennoch verneinen. Gemäss der französischen Philosophin Camille Froidevaux-Metterie begann die europäische Gesellschaft erst ab der Renaissance die weibliche Brust zu sexualisieren, da in diesem Zeitraum auch die Sittlichkeit der Gesellschaft neu verhandelt wurde. Davor sei der Busen viel mehr als Symbol für Fruchtbarkeit und Leben verehrt worden.
Ausserdem gibt es Gesellschaften, in denen die weibliche Brust überhaupt nicht mit Sexualität in Verbindung gebracht wird. Die Anthropologin Katherine Dettwyler erzählte etwa im Buch «Breasts: The Women's Perspective on an American Obsession», das 1998 erschien, dass Frauen in Mali in Gelächter ausgebrochen seien, als sie ihnen erklärte, dass Frauenbrüste in den USA als sexuell erregend galten. «Du meinst, Männer verhalten sich wie Babys?», hätten die Frauen gefragt. Sie selbst seien in der Öffentlichkeit häufig mit freiem Oberkörper herumgelaufen.
Europäische Kolonialisten dokumentierten ausserdem ab dem 13. Jahrhundert sowohl in Amerika als auch in Afrika und Asien zahlreiche Gesellschaften, in denen Frauen ihre Brüste im Alltag gar nicht oder nur zu praktischen Zwecken, etwa für die Arbeit, bedeckten. Für die Anthropologin Dettwyler ist deshalb klar: Unsere sexuellen Gewohnheiten sind Produkt unserer Kultur und Gesellschaft. Die Sexualisierung und Tabuisierung der nackten Frauenbrust liesse sich darum durchaus wieder verändern.
Aber was hilft nun all dieses Wissen in Bezug auf die Oben-ohne-Debatte in den Zürcher Badis? Wahrscheinlich nichts. Nur, weil man weiss, dass die weibliche Brust nicht sexualisiert sein müsste, heisst das nicht, dass sie es nicht dennoch ist. Männer, die künftig extra in die Badi gehen werden, um nackte Frauenbrüste anzuglotzen, wird diese Erkenntnis nicht davon abhalten. Das zeigte bereits die Vergangenheit.
Als im Jahr 1978 das Berner Obergericht entschied, dass Frauen in Berner Freibädern nicht mehr für das Entblössen ihrer Brüste gebüsst werden dürfen, tummelten sich im Sommer darauf Frauen oben ohne am Marzili. «Busen vor dem Bundeshaus», titelte daraufhin der «Blick», und zahlreiche Männer pilgerten mit Kameras in die Flussbadi. Immer wieder mussten Bademeister eingreifen, wenn sich Frauen belästigt fühlten.
Heute, wo mit dem Handy noch diskreter gefilmt werden und Videos einfach im Netz landen können, ist darum zu erwarten, dass sich viele Frauen umso weniger trauen werden, das Bikinioberteil zu Hause zu lassen. Selbst wenn sie es künftig in Zürich oder gar schweizweit dürften.