Ereilt die Grünen das gleiche Schicksal wie die amerikanische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton? Die Parallelen sind da: Clinton erreichte bei den Wahlen am 8. November zwar eine Mehrheit der Stimmen, ihr Kontrahent Donald Trump entschied aber eine Mehrheit der US-Bundesstaaten für sich.
Bei der Abstimmung zur grünen Atomausstiegsinitiative nächstes Wochenende droht den Initianten ein ähnliches Szenario. Die Grünen könnten eine knappe Volksmehrheit hinter sich scharen, aber am Ständemehr scheitern; für eine Annahme der Initiative ist neben der Stimmenmehrheit auch eine Mehrheit von mindestens zwölf ganzen Kantonsstimmen notwendig.
Wie knapp es werden könnte, zeigt die zweite SRG-Trendumfrage des Meinungsforschungsinstituts GfS Bern: 48 Prozent der Befragten befürworteten einen schnellen Atomausstieg, 46 Prozent waren bestimmt oder eher dagegen. Damit rückt das Ständemehr in der letzten Woche vor der Abstimmung in den Fokus.
Politikforscher Claude Longchamp hat auf der Basis von fünf Abstimmungen zu AKW-Initiativen (1979 bis 2003) errechnet, in welchen Kantonen es für die Grünen beim Szenario eines hauchdünnen Volksmehrs von 50,1 Prozent besonders knapp werden könnte. Die Entscheidung dürfte laut seinem Prognosemodell in den Kantonen Graubünden, Glarus, Uri, Bern, Freiburg und Waadt fallen.
Sie sind am 27. November die «Swing States» der Schweiz: Hier rechnet der Wissenschafter mit knappen Resultaten; kleine Kantone wie Uri oder Glarus könnten die Initiative zum Kentern bringen.
Longchamp sieht die Gegner der Ausstiegsinitiative derzeit im Vorteil: Sie haben – gemäss Modell – zehn Standesstimmen auf sicher und müssen lediglich zwei Kantone dazugewinnen, um die Initiative der Grünen bei einem knappen Volksmehr trotzdem zu bodigen.
Für die Initianten wäre die Hürde ungleich höher: Sie haben lediglich sieben ganze Stände im Sack und müssten fünf «Swing States» holen, um beim Ständemehr auf der sicheren Seite zu sein.
Erst ab einem Ja-Anteil von 52 Prozent spielt das Ständemehr keine Rolle mehr. Longchamp betont, es handle sich bei seiner Prognose lediglich um ein mögliches Szenario bei einem knappen Ausgang.
Trotzdem fokussieren nun sowohl die Ja- als auch die Nein-Kampagne ihre Kräfte auf jene Kantone, die in ihren Augen auf der Kippe stehen. Gemäss Recherchen haben Wirtschaftsverbände auf der Basis von eigenen Umfragen noch weitere Kantone als potenzielle «Swing States» identifiziert: darunter Solothurn.
Aus dem Umfeld von Energieministerin Doris Leuthard heisst es, ein knappes Ja zur Initiative ohne Ständemehr würde der Bundesrätin durchaus gelegen kommen – als Signal dafür, dass die Bevölkerung den Atomausstieg will und mit ihrer Energiestrategie grundsätzlich einverstanden ist. Die von der SVP angestrebte Referendumsabstimmung wird voraussichtlich nächstes Jahr stattfinden.
Ein Ja zur Atomausstiegsinitiative hätte unmittelbare Konsequenzen: Die AKW Mühleberg und Beznau müssten bereits 2017 vom Netz gehen. Der Bund und die Energieversorger müssten klären, wie der wegfallende Strom ersetzt wird.
Klar ist nur: Die grüne Vision einer nuklear- und fossilfreien Energieversorgung wird auch nach einer Annahme der Initiative nicht sofort Realität werden. In den ersten Jahren nach der Abschaltung der Reaktoren in Mühleberg gibt es nur eine Lösung: Stromimporte aus Deutschland und Frankreich, allenfalls Italien. Der Bau von Gaskraftwerken – ursprünglich von Energieministerin Leuthard als Alternative vorgesehen – ist aufgrund der tiefen Preise am europäischen Strommarkt nicht rentabel.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse warnt mit einer neuen Studie davor, im grossen Stil auf Stromimporte umzuschwenken: Die Importe erforderten den Abschluss neuer Liefervereinbarungen – diese seien mittelfristig «keineswegs gesichert»: Ab dem Winterhalbjahr 2025/2026 zeichneten sich «praktisch europaweit» saisonale Versorgungsengpässe ab.
Die Economiesuisse lässt das Argument der Initianten, AKW seien bereits heute nicht mehr rentabel, nicht gelten. Die Studienautoren betonen: Solange die laufenden Erträge die Kosten übersteigen, können die AKW-Betreiber auch bei den aktuell niedrigen Strompreisen ihre Fixkosten reduzieren. Sollten sich die Strompreise erholen, verbessere sich auch die Rentabilität. Es mache betriebswirtschaftlich keinen Sinn, die Schweizer Atomkraftwerke vor Ende ihrer technischen Lebensdauer stillzulegen.