«Ein Schweizer bekommt in Strassburg Recht, Männer werden diskriminiert. Anstatt die Sache für die Männer zu verbessern, nutzt der Bundesrat das Urteil, um Frauen gleich schlecht zu stellen wie Männer», schreibt Gerhard Pfister. Der Mitte-Präsident deklariert seinen Tweet von Donnerstag als Werbespot für die Initiative «Für faire AHV-Renten auch für Ehepaare» seiner Partei.
Man kann den Satz aber auch als Bewerbungsschreiben an die Adresse der Linken lesen: In der SP-Zentrale hätte das niemand träfer sagen können.
Es ist bloss eine von vielen Twitter-Episoden in Pfisters Timeline. Aber sie zeigt, was die Politik in Bundesbern schon jetzt so bewegt wie kaum ein anderes Thema: der Kampf um die künftige Zusammensetzung des Bundesrats, die Wahlen 2027. Hört man sich um, ist von «Nervosität in Parteisekretariaten» die Rede; dass im Bundesrat das parteitaktische Kalkül vermehrt vor der Lösung komme. Und von Ambitionen einzelner Protagonisten. Natürlich fällt da auch Pfisters Name, aber nicht nur.
Das Bundeshaus ist eine Hexenküche, in der alle ihre Zauberformel köcheln – und das eigene Süppchen.
Doch warum lassen die Wahlen von Ende 2027 schon jetzt den Puls der Politiker höher schlagen?
Was heisst das für 2027? Schon minime Verschiebungen der Wählergunst kehren das Kräfteverhältnis zwischen FDP und Mitte um. Hört Cassis tatsächlich auf, fällt für die FDP der Bisherigenbonus bei der Gesamterneuerungswahl des Bundesrates weg. 2023 profitierte sie noch davon, weil in der Mitte-Partei die Abwahl von amtierenden Bundesräten schlecht ankommt. Doch nach den jüngsten Erfahrungen werden es sich die Parteien von Mitte-links, die in der Bundesversammlung eine knappe Mehrheit haben, gut überlegen, FDP und SVP weiterhin die Mehrheit im Bundesrat zu überlassen.
Vor allem der Ärger von SP und Grünen über den rechtsbürgerlichen Durchmarsch in der Regierung spielt der Mitte in die Hände. Denn Stand heute ist nicht ersichtlich, wie die Grünen zu einem Bundesratssitz kommen sollen, der nicht auf Kosten der SP geht. Links-Grün bleibt folglich nur die Wahl zwischen Mitte und FDP – und nicht zuletzt dank Pfisters Linkskurs in der Sozialpolitik ist dieser Fall klar.
Das zeigt sich in diesen Tagen in der AHV-Debatte. Pfister umgarnt die Linke und hat auch einen ersten Erfolg erzielt. Die zuständige Kommission des Nationalrats hat am Freitag den von Pfister als «zynisch» kritisierten Vorschlag des Bundesrats zu den Witwenrenten sistiert – bis eine Botschaft zur AHV-Initiative der Mitte vorliegt.
Die Initiative verlangt, dass auch Eheleute bei der Pensionierung zwei volle Renten erhalten und nicht nur eineinhalb wie bisher. Nach dem Ja zur 13. AHV-Rente hat auch sie gute Chancen im Volk. Das weiss Pfister. Und nicht nur er: Inzwischen sprechen sich sogar SVP und FDP für die Erhöhung des Rentenplafonds für Verheiratete aus. Die SVP verknüpft sie allerdings mit der Kürzung der Witwenrente, die FDP will kein zusätzliches Geld dafür ausgeben. Das dürfte schwierig werden.
Die Konstellation spricht für einen Deal der Mitte mit SP und Grünen, die die nötigen rund 8 Milliarden Franken für die Finanzierung der 13. AHV-Rente und der vollen Ehepaarrente nicht allein bei der Mehrwertsteuer holen wollen, sondern auch bei Lohnprozenten und aus der Bundeskasse. Gelingt Mitte-links der AHV-Coup, wäre das ein Beleg für die Schlagkraft dieser Allianz – gerade auch im Hinblick auf die Bundesratswahlen 2027.
Was heisst das für die FDP? Am sichersten könnte sie ihren zweiten Bundesratssitz verteidigen, indem sie ihren Wähleranteil ausbaut. In der vereinigten Bundesversammlung, die die Regierungsmitglieder wählt, müsste sie zusammen mit der SVP elf Sitze zulegen. Eine hohe Hürde.
Während die Mitte nach links rückt, schärft die FDP ihr rechtes Profil. Mit einem härteren Kurs in der Asylpolitik, einer auf Leistung ausgerichteten Schule, dem Kampf gegen neuen Steuern, für eine starke Armee und die Unversehrtheit der Schuldenbremse. Im Aargau hat ihr das jüngst in den Wahlen zu einem leichten Aufwärtstrend verholfen.
Doch auf Bundesebene gibt es ein grosses Problem: Das EU-Dossier von FDP-Aussenminister Cassis. Das Paket der Bilateralen III mit EU-Richtern, Rechtsübernahme und Kompromissen mit den Gewerkschaften beim Arbeitsrecht im Inland – als Preis für die wirtschaftlichen Vorteile des Zugangs in den EU-Markt. Die Partei ist tief gespalten.
Schon geistert die Idee herum, die Abstimmung über die Verträge, die bald fertig ausgehandelt sein dürften, über die Wahlen 2027 hinauszuzögern. «Das Parlament kann unendlich filibustern», sagt eine involvierte Person, «indem es immer neue Berichte zu einzelnen Fragen bestellt». Oder, wie das jemand anderes skizziert: Teile der FDP-Fraktion könnten das Vertragswerk zusammen mit der SVP und Teilen der Mitte im Parlament zum Absturz bringen – und der Parteibasis so die Zerreissprobe ersparen.
Das grösste Risiko für die FDP in diesem Fall: Bundesrat Cassis' Rücktritt mitten in der Legislatur. Und eine Ersatzwahl – mit Vorteil Pfister. (aargauerzeitung.ch)