Menschen mit Behinderung sollen als gleichwertige Mitglieder an der Gesellschaft teilhaben können. Dies ist ein zentrales Ziel der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Doch acht Jahre später ist die Schweiz diesem Ziel nicht viel näher gekommen. Dies zeigt der Bericht des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung.
Es ist das erste Mal, dass der UNO-Ausschuss überprüft, wie gut die Schweiz die Konvention umsetzt. Und die Ergebnisse sind ziemlich ernüchternd: In der Schweiz gibt es insbesondere bei der Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung noch viel Handlungsbedarf.
«Es geht nicht nur um Details, sondern auch um ganz grundsätzliche Punkte, wo zwischen der Konvention und der Schweizer Umsetzung ein Graben besteht», erklärt Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel sowie Mitglied des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Bei der Überprüfung der Schweiz trat er in den Ausstand, doch Schefer hat die Gespräche zwischen der Schweizer Delegation und dem UNO-Ausschuss mitverfolgt.
Dabei sind ihm zwei Dinge besonders aufgefallen: «Meine Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss gingen davon aus, dass in der Schweiz alles gut läuft. Sie waren erstaunt über die Realität, die sie antrafen», so Schefer. Auch er selbst sei überrascht worden – vom Auftritt mancher Vertreterinnen und Vertreter der Bundesverwaltung in Bern:
Fast ein bisschen belehrend habe es gewirkt, als eine Schweizer Rapporteurin dem Ausschuss erklärte, wie das Sozialversicherungsrecht in der Schweiz funktioniere – «in der grössten Überzeugung, das sei so richtig», sagt Schefer. «Das ist keine gute Ausgangslage für den anstehenden Diskurs.»
Es herrscht eine Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung der Schweiz und der Beurteilung durch den UNO-Ausschuss. Das zeigt sich auch in den offiziellen Antworten der Schweiz auf die Fragen der UNO. Da steht etwa: «Die Regierung geht davon aus, dass das bestehende Zivilrecht einen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung bietet.»
Demgegenüber schreibt der UNO-Ausschuss, manche Rechtsvorschriften würden die Rechtsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen einschränken. Die Schweiz sei angehalten, einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz zu gewährleisten.
Handlungsbedarf ortet Staatsrechtsprofessor Markus Schefer auch bei den Kantonen. Seit acht Jahren sei die UNO-Konvention in Kraft, doch die Mehrheit der Kantone habe noch immer keine umfassende Gesetzgebung in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderung.
Zwar habe sich die Schweiz mit der Invalidenversicherung seit Jahrzehnten stark für Menschen mit Behinderung eingesetzt, so Schefer: «Das darf man nicht kleinreden. Wir geben gewaltige Summen für die IV aus.» Doch es brauche tiefgreifende Veränderungen in mehreren Bereichen: etwa bei der Frage von unfreiwilligen medizinischen Behandlungen, bei der inklusiven Schule, bei der Arbeit und beim Wohnen. Schefer sagt:
Im Schweizer System mit den vielen Heimen und Institutionen sei dies nicht der Fall.
Auch für Inclusion Handicap, den Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz, ist klar: Die Schweiz steht bezüglich Inklusion von Menschen mit Behinderung schlecht da. «Die Kritik des UNO-Ausschusses ist unmissverständlich. Sie betrifft fast alle Artikel der Behindertenrechtskonvention», sagt Caroline Hess-Klein, Leiterin der Abteilung Gleichstellung.
Im Schweizer Recht werde eine Behinderung als individuelles Problem angeschaut. «So hat man ein ziemlich gutes System für individuelle Hilfe aufgebaut», erklärt Hess-Klein.
Dieses fürsorgerischen System mit Sonderschulen, Institutionen und geschützten Arbeitsplätzen habe jedoch eine gewichtige Kehrseite:
Eine Behinderung werde nach wie vor oft als Krankheit oder Defizit angeschaut. Das sieht Caroline Hess-Klein mit als Grund, warum sich die Schweiz bei der Inklusion so schwer tut: «Was wir mit Verletzlichkeit oder Krankheit assoziieren, schieben wir gerne weg. So will man auch eine Behinderung lieber verdrängen.»
Oft fehle die Erkenntnis, in wie vielen Bereichen die Rechte von Menschen mit Behinderung tangiert seien. Wenn etwa das Bundesamt für Justiz eine Gesetzesvorlage revidiere, denke es nicht daran, dass es Vorgaben zur Zugänglichkeit bräuchte. Caroline Hess-Klein sagt:
Die Frage müsse weniger sein: Wie können wir Menschen mit Behinderung helfen? Sondern vielmehr: Wie gestalten wir die Gesellschaft so, dass eine Person im Rollstuhl nicht mehr auf Hilfe angewiesen ist? Dass alle an der Schulbildung teilnehmen können? Dass Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können?
Nun gelte es, die Kritik des UNO-Ausschusses ernst zu nehmen, so Caroline Hess-Klein: «Es ist eine historische Gelegenheit für die Schweiz, jetzt einen Plan aufzustellen, Prioritäten und Zuständigkeiten zu klären.» Die Umsetzung der Konvention verlange tiefgreifende Veränderungen unserer Gesellschaft. Entsprechend müsse man gewisse Projekte auf zehn bis zwanzig Jahre ausrichten.
Doch mit der Arbeit müsse man umgehend beginnen, sagt Hess-Klein: «Dies bedeutet zum Beispiel, bei jeder Gesetzesrevision immer auch an die Situation von Menschen mit Behinderungen denken.» So könne man schon viel bewirken.