Das Schicksal meinte es nicht gut mit der achtköpfigen Zurzibieter Familie Künzi. Als der heute 86-jährige Eugen Künzi sechs Jahre alt war, erlitt sein Vater einen Hirnschlag, seine Mutter einen Lungenriss. Der Vater war danach halbseitig gelähmt und kam ins Pflegeheim Muri. Die Behörden brachten die sechs Kinder Eugen, Trudi, Hans, Karl, Fridolin und Werner ins Kinderheim St.Joseph in Klingnau. Er habe es dort recht gehabt, erinnert sich Eugen Künzi. Ein Bruder habe aber zur Strafe schon mal in der Ecke auf einem Holzscheit knien müssen.
Doch als er 7 Jahre alt war, kam er auf einen Bauernhof in Freienwil. Die Geschwister wurden ebenfalls auf Bauernhöfen im Aargau platziert. Was er in Freienwil erlebte, «das war der Horror», erinnert sich Eugen Künzi. Ein Horror, der sechs Jahre dauerte. Der kleine Bub wurde als Knecht missbraucht, musste schon frühmorgens im Stall, im Garten, auf dem Feld und im Haus arbeiten.
Immer wieder hörte er, man wisse ja, woher er komme, und er habe nur zu reden, wenn er gefragt werde. «Ich dachte damals», so Eugen Künzi, «ich sei nichts wert.» Wenn er im Haus putzte, stand die Bäuerin hinter ihm «und schlug mich bei jeder Gelegenheit». Überhaupt gehörten Schläge zum täglichen Brot. Oft gab es die auch noch vom Lehrer, weil er vor lauter Arbeit die Hausaufgaben nicht richtig machen konnte.
Die Tochter der Bauernfamilie arbeitete in einem Restaurant in Ennetbaden. Als Neunjähriger musste Eugen bei jedem Wetter via Hertenstein den enorm steilen Weg hinunter nach Ennetbaden mit dem Leiterwägeli Gemüse oder im Winter auch mal Kartoffeln liefern.
Einmal stürzte er vom Balkon und erlitt offensichtlich eine schwere Gehirnerschütterung. Er legte sich ins Bett. Da stürzte die Bäuerin herein: «Du fuule Chaib, du gohsch id Chrischtelehr uf Lengnau!» Zur Bekräftigung gab es eine schallende Ohrfeige. Irgendwie kam Eugen damals tatsächlich nach Lengnau, auch wenn ihm hundeelend war und er sich unterwegs übergeben musste: «Ich litt noch jahrelang an Kopfschmerzen.»
Nebst ihm war noch ein älterer Verdingbub auf dem Hof. Der türmte eines Tages. Er hat sich das schon auch überlegt: «Doch wohin sollte ich? Meine Familie gab es nicht mehr.» Von seinem Amtsvormund habe er damals und auch später nie etwas gesehen oder gehört. So weiss er auch nicht, warum er mit 13 Jahren plötzlich auf einen anderen Hof gebracht wurde, nach Würenlingen.
Dort blieb er, bis er 15 Jahre alt war. Wieder gab es viel harte Arbeit, «aber wenigstens keine Schläge». Einen noch so kleinen Lohn erhielt er nicht. Auch hier fehlte die Zeit für die Schulaufgaben. Im Schulzeugnis stand dann: «Ist oft unzuverlässig» – was Eugen besonders traf. Künzi ist bewusst, dass damals auch leibliche Bauernkinder auf dem Hof mitarbeiten mussten: «Aber die wurden wenigstens anständig behandelt.»
Eines Tages, als er 15 war, hiess es: «Wir haben eine Lehrstelle für dich. Willst du Schlosser werden?» Eine Wahl hatte er nicht. Er kam zu einem Lehrmeister nach Wettingen. Wieder wartete viel Arbeit. Doch er hatte Kost und Logis, wurde gewissermassen in die Familie aufgenommen. Künzi: «Das habe ich geschätzt.» Auch, dass er sich als Sanitär- und Heizungsmonteur weiterbilden konnte. Danach fand er eine gute Stelle.
Es kam eine schöne Zeit. Eugen Künzi lernte seine Frau Hildegard kennen. Mit ihr ist er seit 60 Jahren glücklich verheiratet. Dem Paar wurden vier Kinder geschenkt, es hat sechs Enkelkinder. Auch mit ihnen habe er eine schöne Zeit erlebt. Ein besonders gutes Verhältnis hat er zu einem Enkel, der heute die Ausbildung als Militärpilot macht, wie er stolz sagt. Als Bub sagte der Enkel einmal, wenn er gross sei, wolle er den Grossvati heiraten. Dieses rührende Erlebnis hat sein Selbstbewusstsein enorm gestärkt.
Verlangt er eine Entschädigung? Er trage dem Staat nichts nach, sagt Künzi: «Die Situation war halt so.» Gewünscht hätte er sich aber sehr, dass die Behörden seine Familie beisammen gelassen oder wenigstens besser hingeschaut hätten. Heute gehe es ihm und seiner Frau gut. Auf eine Entschädigung wäre Künzi nicht angewiesen. Gäbe es eine, nähme er sie, würde aber einen Teil dem Roten Kreuz, der Berghilfe oder weiteren spenden.
Geschätzt hat er, dass sich die Bundespräsidentin entschuldigt hat: «Damit hat sie ein Zeichen gesetzt. Es war höchste Zeit.» Künzi hofft, dass er seine Vergangenheit, die seit Jahrzehnten an ihm nagt und immer wieder hochkommt, mit der Debatte im Parlament endlich fertig verarbeiten und damit abschliessen kann.
Was überwiegt denn angesichts des erlittenen Unrechts? Trauer? Wut? Verbitterung? Er sei vor allem traurig, sagt Eugen Künzi: «Weil ich keine Familie hatte.» Die Kinder konnten damals manchmal mit der Mutter den Vater im Pflegeheim besuchen. Mehr gab's nicht.
Jetzt wartet Eugen Künzi auf eine stabile Hochwetterlage. Dann hält den rüstigen Mann nichts mehr und er zieht los nach Grindelwald, um abzuheben – als ältester Gleitschirmpilot der Schweiz.