Die 5-jährige Luana trägt gerne pink, spielt oft mit Mädchen aus der Nachbarschaft und hält am liebsten die Babypuppe im Arm. Nie würde es ihr in den Sinn kommen, sich im Dreck zu wälzen, wie es ihr älterer Bruder tut. So weit, so gewöhnlich, bloss: Luana kam als Luca zur Welt. Dass sie anders ist, wird den Eltern früh klar.
Schon mit drei zeigt Luca ein von anderen Buben stark abweichendes Verhalten. Das blieb so. «Ich bin kein Junge, sondern ein Mädchen», sagt das Kind noch heute. Luana, die in einem Dok-Film vorgestellt wurde, ist kein Einzelfall. Heute wird bei Buben und Mädchen häufiger eine sogenannte Geschlechtsdysphorie diagnostiziert als noch vor fünf Jahren. Offizielle Zahlen fehlen, doch Kliniken, die auf die Behandlung von Transidentität spezialisiert sind, berichten von stark steigenden Zahlen. Viele Kinder und Jugendliche würden ihr biologisches Geschlecht ablehnen. Auffallend ist, dass die Buben und Mädchen zum Zeitpunkt der Diagnose jünger sind als vor einigen Jahren.
«Heute erreichen uns mehr Anfragen von Eltern, deren Kinder noch in die Primarschulen gehen», sagt Tanja Martinez vom nationalen Dachverband Transgender Network Switzerland. Bei einigen fällt der Nachwuchs bereits im Kindergarten auf – im Alter von 4 oder 5 Jahren. «Die Geschlechts-Identität kann sich früh bilden.» Dabei geht es nicht um Jungen, die einmal mit Puppen spielen, oder Mädchen, die sich bubenhaft geben. Es geht um Kinder, die sich komplett dem anderen Geschlecht angehörig fühlen. Zwar existieren keine handfesten Kriterien, nach denen sich das entscheiden liesse. Ein bedeutender Faktor ist aber, ob ein Kind sichtlich leidet, wenn es seinem biologischen Geschlecht zugeordnet wird. Daneben gibt es Anhaltspunkte: Mädchen, die um keinen Preis langen Haare haben wollen, oder Buben, die fragen, ob das da unten irgendwann abfalle. Das können Anzeichen sein, müssen aber nicht
Die Entwicklung lässt sich auch an den Schulen erkennen. Lehrer und Schulleiter melden sich regelmässig bei Transgender Network Switzerland. «Sie wollen erfahren, wie sie das Thema ansprechen und mit den Kindern umgehen sollen», sagt Martinez. Zudem führen Pädagogische Hochschulen seit kurzem Podien durch, um die angehenden Lehrer zu sensibilisieren. Dass sich heute mehr Jugendliche dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen als früher, sei trotzdem nicht sicher, sagt Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik in Zürich.
Zwar spricht sie ebenfalls von einer deutlichen Zunahme der Anmeldungen. Es könne aber sein, dass sich die Jugendlichen nun einfach eher trauen würden, sich zu melden. Die entsprechende Anlaufstelle gibt es noch nicht lange. Es war Pauli, die vor zehn Jahren die erste Sprechstunde der Schweiz einführte. Mittlerweile sind neue hinzugekommen, beispielsweise in Basel. «Vorher gab es nichts», sagt Pauli, «das Thema war tabu.» Zu Beginn suchten drei bis fünf junge Menschen jährlich Hilfe bei ihr, heute sind es rund hundert
Andere Experten sehen den Grund allerdings nicht im Ende eines Tabus, sondern in einem beunruhigenden Trend. Für Aufsehen sorgte zuletzt das Interview eines Kinderpsychiaters im Magazin «Spiegel»: Alexander Korte, Oberarzt am Klinikum der Universität München, bereitet die Zunahme der Fälle Sorge. «Wir haben es hier offensichtlich mit einem Zeitgeistphänomen zu tun», sagt er. Die Zahl der Diagnosen sei heute fünfmal so hoch wie 2013. Sie würden von Anfragen überschwemmt, die Wartezeit für neue Patienten betrage bis zu einem Jahr. «Das Thema ist einfach en vogue.» Das gilt nicht nur für Deutschland und die Schweiz.
In den USA fühlen sich gemäss einer Studie 150000 Teenager im Alter von 13 bis 17 als transgender. Auch in Grossbritannien meldeten sich im vergangenen Jahr über 2500 Kinder bei der Anlaufstelle. 2010 waren es noch 97. Die Weltgesundheitsorganisation hat im Juni reagiert. Transgender-Menschen gelten nicht länger als psychisch krank. Korte bleibt dennoch skeptisch. Zweifellos gebe es Betroffene, bei denen es sich tatsächlich um Transsexualität handle. Aber das Thema werde einfach sehr gehypt, egal ob auf Youtube, Instagram oder im Fernsehen. Bei «Germany’s Next Topmodel» nahmen beispielsweise Transmädchen teil, die für viele zum Vorbild geworden sind. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Transjungen, die auf den sozialen Kanälen zu Stars wurden – mit tausenden jugendlichen Followern. Korte glaubt deshalb an einen Nachahmungseffekt. Auf seiner Patientenliste stünden beispielsweise drei Mädchen und ein Junge – alle im selben Alter und alle aus demselben kleinen bayrischen Ort. «Das widerspricht jeder statistischen Wahrscheinlichkeit.»
Die Zürcher Chefärztin Pauli sieht das allerdings anders. Sie glaubt nicht an ein Zeitgeistphänomen. «Der Leidensdruck vieler Transgender-Jugendlicher ist oft sehr gross», sagt sie. Die Rate von jungen Menschen mit Depressionen, Suizidalität und Selbstverletzungen sei bei Transmenschen in der Pubertät besonders hoch. Sie liege bei ungefähr 70 Prozent. «Warum sollten sich die Betroffenen diesem Leid wegen eines Trends aussetzen?», fragt Pauli. Tatsächlich berichten Kinderpsychiater von Fällen, in denen die Jugendlichen sagen: «Macht doch endlich, sonst bringe ich mich um.» Mit dieser Extremform war Pauli noch nie konfrontiert.
Bei stabiler und andauernder Transidentität im Jugendalter solle man mit dringend gewünschten pubertätshemmenden oder geschlechtsangleichenden Massnahmen nicht zu lange warten, rät sie. Bei Kindern auf der Primarstufe sei das anders. Pauli empfiehlt Eltern, offen zu sein und mitzuteilen: «Wenn es dir wichtig ist, dann bist du jetzt das, was du sein möchtest.» Ein Kind brauche noch keine medizinische Behandlung, jedoch viel Freiraum und keine Kategorien, die sein Geschlecht definierten. Ähnlich sieht es Kinderpsychiater Korte. Er ergänzt aber, dass Freiraum auch eine andere Seite beinhalte: Man dürfe dem Kind nicht das Konzept «trans» überstülpen, nur weil es sich so benehme. «Es geht nicht darum, seinem Kind das Verhalten auszutreiben – aber man muss es nicht unnötig darin bestärken.»
Dass der Koerper nicht in jeder Beziehung so ist, wie man ihn sich wuenschen wuerde, ist weit verbreitet (ich waere z.B. gerne ein paar Zentimeter groesser).
Aber meine Identitaet derart stark an das Geschlecht zu knuepfen erscheint mir falsch. Ich habe sehr viele "typisch maennliche" Eigenschaften (nicht nur gute!), aber da sind auch ein paar dabei, die gemeinhin als typisch weiblich gelten.
Stellt das meine Identitaet in Frage? Keineswegs, ich bin ich, so wie ich bin, und dieses Kategoriendenken hilft doch wirklich niemandem weiter.
Viele Leute haben Identitätskrisen, Sinnkrisen, zudem sind wir in einer Gesellschaft mit vorwiegend individualistischer und konstruktivistischer Denkweise.
Momentan fokussiert der öffentliche Diskurs massiv auf die geschlechtliche Identität.
Einige die sich im "Ich" nicht wohlfühlen werden dann schnell auf den Gedanken gebracht, dass es am Geschlecht liegen könnte.
Betroffene, die ich kennen lernte, hatten erschütternde Biografien, bei denen es eig. noch um viel anderes gehen würde.