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Die Grüne Nationalrätin Irène Kälin will in den Stände

Nationalratspraesidentin Irene Kaelin, GP-AG, diskutiert kurz vor Sitzungsbeginn mit einem Ratsmitglied, am ersten Tag der Herbstsession der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 12. September 2022 im Na ...
Irène Kälin war im vergangenen Jahr Nationalratspräsidentin.Bild: keystone

«Eine echte Alternative»: Die Grüne Nationalrätin Irène Kälin will in den Ständerat

Im letzten Jahr war sie höchste Schweizerin, jetzt will die Grüne Irène Kälin (35) vom Nationalrat in den Ständerat wechseln. Ihre Partei nominiert ihre Kandidatur im Januar.
12.12.2022, 06:4112.01.2023, 14:48
Eva Berger / ch media
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Sie sassen drei Jahre lang ganz vorne im Nationalratssaal, jetzt sind Sie wieder an Ihrem Platz bei den Grünen. Haben Sie schon einmal aus Versehen am Morgen den falschen Stuhl angepeilt?
Irène Kälin: Nein, es fühlt sich an wie ein Nachhausekommen, bei meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen. Und ich habe ja einen wunderbaren Platz, direkt vis-à-vis von meinem Nachfolger Martin Candinas.

Wie erlebten Sie den Perspektivenwechsel nach Ihrer Wahl ins Nationalratspräsidium?
Die Perspektive entwickelt sich kontinuierlich weg von der parteipolitischen Tagespolitik hin zur Mehrheitspolitik der Schweiz. Der Respekt für andere Meinungen und Zukunftswünsche für dieses Land wird immer grösser.​

Zur Person
Irène Kälin ist im November 2017 für den zurückgetretenen Jonas Fricker in den Nationalrat nachgerückt, bei den Wahlen 2019 wurde sie bestätigt. Im Amtsjahr 2021/2022 war sie Nationalratspräsidentin. Kälin wurde am 6. Februar 1987 in Lenzburg geboren. Sie hat Islamwissenschaft und Religionswissenschaft in Zürich und Bern studiert. 2010 bis 2017 war sie für die Grünen im Aargauer Grossen Rat. Sie ist Präsidentin des Gewerkschaftsdachverbands Arbeit Aargau, wohnt in Oberflachs und ist Mutter eines vierjährigen Sohnes.

Sie wurden als Nationalratspräsidentin richtig bekannt. Kandidieren Sie jetzt bei den Wahlen 2023 im Aargau für den Ständerat?
Ja, ich werde kandidieren. Sofern mich meine Partei im Januar nominiert. Die Ausgangslage ist allerdings ganz, ganz schwierig.

Bei Pascale Bruderer (SP) hat es 2011 im ersten Wahlgang geklappt. Und sie war Nationalratspräsidentin 2009/2010 …
Ich glaube, Pascale Bruderer hatte damals bessere Voraussetzungen. Für mich persönlich stimmen die Bedingungen jetzt aber. Mindestens für einen ersten Wahlgang haben die Aargauerinnen und Aargauer mit mir eine echte Alternative.​

Glauben Sie nicht an einen zweiten?
Ich finde, wir haben eine gute Chance, für den Aargau eine geteilte Standesstimme zu erreichen. Und das muss unser Anliegen sein. Nicht nur Linke sind sich einig, dass für den Kanton viel erreicht wurde, als wir für acht Jahre mit der Sozialdemokratin Pascale Bruderer und der Freisinnigen Christine Egerszegi und dann mit Philipp Müller eine geteilte Standesstimme hatten. Die Aargauer Bevölkerung hat es verdient, in ihrer ganzen Breite repräsentiert zu sein.​

Alle nicht-bürgerlichen Parteien müssen sich im zweiten Wahlgang also auf eine Kandidatin einigen?
Ja. Es deutet, mit diesem Kandidatinnenfeld, alles auf einen zweiten Wahlgang hin. Nach dem ersten bleibt wenig Zeit, um zu fokussieren. Spannen wir dann nicht zusammen, laufen wir Gefahr, wieder eine rein bürgerliche Standesstimme zu haben. Wie schon der Regierungsrat, bliebe diese zudem ohne Frau. Und das ist für mich keine Lösung, weshalb es sehr begrüssenswert ist, dass es so viele Ständeratskandidatinnen gibt. Aber wir werden uns im zweiten Wahlgang auf eine von uns einigen müssen, wenn wir wirklich eine Ständerätin haben wollen.​

Man hat mit Evi Allemann eine potenzielle Kandidatin mit diesem Profil gefunden, sie dann aber nicht nominiert. Das hinterlässt Fragezeichen.
Kälin über das SP-Ticket und die Forderung nach jungen Müttern im Bundesrat.

Letzte Woche wurden Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider in den Bundesrat gewählt. Sind Sie damit zufrieden?
Ja und nein. Ja, weil ich mich sehr für den Kanton Jura freue, dass er damit zum ersten Mal in der Geschichte eine Bundesrätin hat. Nein, weil es mir sehr zu denken gibt, dass die urbane und städtische Schweiz damit im Bundesrat kaum noch vertreten ist.​

Sie haben im Vorfeld gesagt, Sie wünschten sich eine junge Mutter im Bundesrat. Das war allerdings schon bei den Kandidierenden-Tickets keine Option mehr.
Mich hat an dieser Ausgangslage vor allem sehr befremdet, dass die SP die jungen Mütter selbst zum Thema gemacht hat. Man hat dann mit Evi Allemann eine potenzielle Kandidatin mit diesem Profil gefunden, sie dann aber nicht nominiert. Das hinterlässt Fragezeichen.

Ist der Bundesrat reif für eine junge Mutter?
Für ein Elternteil – egal ob Mann oder Frau –, das eine aktive Familienrolle spielen will, wäre es eine enorme Herausforderung. Aber man kann die Strukturen ja, von innen oder von aussen, ändern. Denn ändern müssen sie sich.

Würden Sie für den Bundesrat kandidieren? Auch Sie sind eine junge Mutter.
Nein, jetzt nicht. Eine Nationalratspräsidentin hat gegenüber einer Bundesrätin noch viele Freiheiten, aber bereits eine volle Agenda. Dabei gleichzeitig ein kleines Kind zu haben – diesen Preis würde ich nicht zahlen wollen.​

Sie wurden in Ihrem ersten Jahr als Nationalrätin Mutter. Ihr Kind war auch in Ihrem Präsidiumsjahr oft an Ihrer Seite. War das ein Problem?
Die ausgelösten Emotionen waren positiv wie auch negativ. Man stellt sich die Frage, wie sehr man sein Privatleben abschirmen muss, oder ob man seine Realität auch im Amt zeigen darf. Das lösen die Eltern im Bundeshaus für sich unterschiedlich. In einem Milizparlament verbinden sich Privates und politisches Amt immer wieder, das ist nicht immer klar trennbar. Fakt ist, dass ich mein Kind im letzten Jahr noch mehr vermisst hätte, und er mich auch, wäre er nicht ab und zu mit mir nach Bern ins Büro gekommen. Die meiste Zeit hat das niemand mitbekommen und das ist auch gut so.​

Elija sitzt auf dem Schoss seiner Mutter Irene Kaelin, GP-AG, Nationalratspraesidentin des vergangenen Jahres, am ersten Tag der Wintersession der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 28. November 2022  ...
Elija sitzt auf dem Schoss seiner Mutter Irène Kälin. Die meiste Zeit habe niemand mitbekommen, wenn er mit zur Arbeit gekommen ist.Bild: keystone

Kurz nach Ihrem Amtsantritt ist in Europa ein Krieg ausgebrochen. Wie war dieser Moment für Sie?
Für mich ist die Welt seit dem 24. Februar nicht mehr die gleiche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich jemand noch getraut, ein Land anzugreifen, weil es sich für einen souveränen Weg und die Annäherung an Europa entscheidet. Aber das Unerwartete ist eingetroffen und wir sind alle gefordert und gleichzeitig auch ein bisschen ohnmächtig. Jedes Land probiert, gemessen an seinen Möglichkeiten, zu helfen. Aber faktisch kämpfen in der Ukraine Mitmenschen um ihr Leben und für unsere gemeinsamen Werte und sind alleine, wenn die Bomben auf sie niederregnen. Und wir stehen neben dran und unser Leben geht fast wie gewohnt weiter.​

Wie meistert die Schweiz diesen Konflikt aus Ihrer Sicht?
Die ersten vier Tage nach Kriegsausbruch, als der Bundesrat noch keine Antwort darauf hatte, ob er überhaupt die Sanktionen gegen Russland übernehmen will, waren dunkle Tage für unser Land. Seither meistern wir die Situation aber gut. Ich bin stolz darauf, dass wir uns nicht hinter der Neutralität verstecken, sondern aktiv an der Seite der Ukraine stehen.​

Im April sind Sie mit einer Delegation ins Kriegsgebiet gereist. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Einerseits ist es natürlich sehr aufwühlend, an den Schauplätzen zu sein, die vom Krieg zerstört wurden oder wo sich die grauenhaften Taten ereignet haben. Auf der anderen Seite war ich tief beeindruckt, wie viel in diesem Land trotz des Krieges noch funktioniert. Der Dienstleistungsgedanke wird hochgehalten, der Service public am Funktionieren gehalten, wo immer es geht, und das Parlament hat nie aufgehört zu tagen.

Kommen deswegen nicht so viele Flüchtende in der Schweiz an, wie man angenommen hatte?
Niemand will die Ukraine verlassen. Alle wollen so schnell wie nur möglich zurück. Trotzdem wurden Millionen auf die Flucht getrieben. Die Frage ist jetzt, wie hart der Winter die Bevölkerung trifft.

Ukrainian Speaker of the Verkhovna Rada, Ruslan Stefanchuk, left, and his Swiss counterpart, President of the National Council, Irene Kaelin, stand for a photo during the Ukraine Recovery Conference U ...
Kälin bei einem Treffen im Juli mit dem ukrainischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefanchuk in Lugano.Bild: keystone

Viele Schweizerinnen und Schweizer haben Flüchtende aus der Ukraine aufgenommen, Geld und Material gespendet. Wie lange hält diese Solidarität der Privaten noch an?
Ich bin berührt von dieser Welle der Solidarität. Ich habe schon einige Flüchtlingskrisen erlebt, aber noch nie so eine breit getragene Hilfsbereitschaft. Das stimmt mich zuversichtlich. Denn mit den gestiegenen Preisen wird manches Portemonnaie schon sehr strapaziert. Und nicht jede private Unterbringung ist eine Erfolgsgeschichte. Aber ich traue es uns zu, dass wir das durchstehen. Gemeinsam.​

Sie sprechen die Inflation an – als oberste Gewerkschafterin im Aargau: Stimmt der Teuerungsausgleich für die Arbeitnehmenden im nächsten Jahr?
Selbstverständlich nicht. Die Krankenkassenprämien steigen, aufgrund des Krieges haben wir hohe Energiepreise und auch noch die Inflation. Es ist etwas viel auf einmal. Gerade eben ist trotzdem im Ständerat das Vorhaben gescheitert, mehr Prämienverbilligungen zu gewähren. Das ist eine Katastrophe für Menschen mit kleinem Geldbeutel.​

Ist das dort, wo die Politik ansetzen müsste?
Ich bin offen für Massnahmen aller Art – ob man es über die Ergänzungsleistungen, die Krankenkassenprämien, den Teuerungsausgleich oder eine 13. AHV-Rente regelt, ist mir eigentlich egal. Wir brauchen einfach eine Lösung. Deshalb ist es so verheerend, dass der einzige Kompromiss für die Prämienverbilligungen nun auch noch gescheitert ist. Denn sinkt die Kaufkraft weiterhin, schwinden auch die Steuereinnahmen. Das kann unmöglich das Ziel sein, auch nicht von den Sparfüchsen, die jetzt die politische Mehrheitsmeinung bestimmen.​

Wie lange kann man steigende Krankenkassenprämien noch mit Staatszuschüssen auffangen und wann muss an der Kostenseite geschraubt werden?
An der Kostenseite müsste natürlich schon lange geschraubt werden. Das Thema einer Einheitskasse kommt tatsächlich erstmals seit meiner Jugend wieder auf. Auch hier in Bundesbern. Die Krankenkassen behaupten nach wie vor, man arbeite kostendeckend. Aber wir wissen ja, dass auch sie Managerlöhne und Boni kennen, dort lässt sich durchaus also noch sparen. Aber ob da wirklich ein politischer Wille ist, der mehrheitsfähig wäre, ist dann wieder eine ganz andere Frage.​

Dafür ist die Arbeitslosigkeit auf einem historischen Tief.
Aber die Spitäler finden keine Pflegekräfte mehr und in der Gastronomie fehlt das Servicepersonal. Der Fachkräftemangel ist überall so virulent, dass ich die tiefe Arbeitslosigkeit nicht nur positiv sehen kann. All die Warnungen, man steuere in einen Fachkräftemangel hinein, wurden nicht ernst genommen. Die Politik hat es nicht geschafft, in den besonders kritischen Bereichen mit Bildungsoffensiven Gegensteuer zu geben.​

In jeder Branche wird Personal gesucht. Warum gibt es diesen Mangel?
Es ist komplex. Es gab mit Corona eine Bereinigung. Viele haben ihre Work-Life-Balance hinterfragt und arbeiten nicht mehr 100 Prozent. Andere liessen sich umschulen. Hinzu kommen die Pensionierungen der Babyboomer. Und Branchen, die schon lange auf einen Fachkräftemangel zusteuerten, oder wie eben die Pflege bereits vor der Pandemie ein riesiges Problem hatten.​

Sind die Arbeitnehmenden jetzt am längeren Hebel, weil sie so gesucht sind?
Der Respekt vor den Arbeitnehmenden ist bei jenen, die unter den unbesetzten Stellen leiden, vielleicht tatsächlich etwas gestiegen. Es gab Zeiten, in denen die Arbeitgeber schneller jemanden austauschen konnten. Das ist heute definitiv anders. Die Arbeitnehmenden sind aber deswegen nicht per se in einer besseren Position. Sie sind es, die leiden, wenn sie auch die Arbeit anderer übernehmen müssen.​

Martin Candinas, Mitte-GR, links, freut sich nach seiner Wahl zum Nationalratspraesidenten und empfaengt die Gratulationen seiner Vorgaengerin, Irene Kaelin, GP-AG, am ersten Tag der Wintersession der ...
Übergabe an Martin Candinas (Mitte). Seit dem 28. November ist Irène Kälin damit wieder ein normales Fraktionsmitglied der Grünen im Nationalrat.Bild: keystone

Sie sagten in Ihrer Schlussrede, Ihr Herz schlage grün. Wie oft mussten Sie das als Nationalratspräsidentin verstecken?
Versteckt habe ich es nie, aber ich habe den Fokus anders gelegt. Es war mir wirklich wichtig, in meiner Rolle als Nationalratspräsidentin, die Schweizer Farben und das, was die Schweiz für uns alle eint, in den Vordergrund zu stellen. Dabei ist sicher auch immer etwas Grünes mitgeschwungen. Aber natürlich hat es mir manchmal gefehlt, mich nicht aktiv an der politischen Debatte beteiligen zu können.​

Mussten Sie eine Rolle spielen?
Nein. Ich habe einen grossen Respekt vor dieser Position, denn das Amt ist grösser als die Person, die es innehat. Auf Auslandreisen wird das sehr gut sichtbar. Dort wurde mein Amt bewacht und geehrt und nicht ich als Irène Kälin. Und so soll es auch sein. Und trotzdem schimmert auch jede Person, die dieses Amt bekleidet, durch. Und auch das ist gut so. Wenn sich jemand mit mir als Nationalratspräsidentin identifizieren konnte, hat mich das sehr gefreut. Bisher waren es ja erst 15 Frauen; Eltern und die junge Generation ganz im Allgemeinen waren bisher klar unterrepräsentiert. Mit mir war das für ein Jahr anders.​

Waren die Grünen mit Ihnen als Präsidentin zufrieden?
Ich hoffe es sehr. Wie glücklich die anderen mit mir waren, müssen Sie diese fragen. Aber ich habe viele positive Rückmeldungen bekommen – von überall im Rat und von überall in unserem schönen Land. Und das hat mich jedes Mal berührt. Denn es war mir wirklich eine Ehre, ein Stück des Weges mit allen gehen zu dürfen als Nationalratspräsidentin. Und jetzt freue ich mich, wieder herzhaft politisieren zu dürfen.​

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