Ein lauer Juniabend vor vier Jahren. Es ist bereits nach 19 Uhr, als der Nationalrat mit 95 zu 94 Stimmen einer Soft-Quote für Frauen in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen zustimmt. Nationalrätinnen aus allen Parteien beglückwünschen sich gegenseitig, euphorisiert aber auch etwas ungläubig auf dem Balkon des Bundeshauses. Nur eine bleibt nüchtern: die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie spricht von einem Vernunftentscheid. Es brauche einen Anstoss, weil der Anteil der Frauen in Geschäftsleitungen abnehme. Der Nationalrat habe das gemerkt. Punkt. Triumphierend? Nein. Erleichterung – das Maximum an Gefühlen.
Eine Frauenquote in der liberalen Schweiz? Das Geschäft war eine Mission impossible genauso wie die Massnahmen zur Lohngleichheit. Dass Sommaruga die Geschäfte durch Bundesrat und Parlament bringt, traute ihr niemand zu. Zur Erinnerung: In der Legislatur 2015–2019 hatten SVP und FDP eine Mehrheit im Nationalrat. Und im Bundesrat hatte Guy Parmelin (SVP) Eveline Widmer-Schlumpf abgelöst.
Gefragt nach ihrem Erfolgsrezept, sagte sie an besagtem Abend: «Ich bin eine Kämpferin.»
Das ist ein Teil der Wahrheit. Der zweite ist: Sommaruga ist eine begnadete Feinmechanikerin der Macht. Eine politische Handwerkerin. Ihr Weggefährte, der ehemalige SP-Nationalrat und Preisüberwacher Rudolf Strahm, beschrieb die Methode Sommaruga als politische Durchsetzungsstrategie mittels Kooperation, Kompromiss und Beharrlichkeit.
So drohte ihr bei den gesetzlich vorgeschriebenen Lohnanalysen im Bundesrat eine Niederlage. Sie zog das Geschäft zurück, liess den öffentlichen Pranger weg und kam im zweiten Anlauf durch. Damit auch das Parlament zustimmen konnte, zeigte sie sich einverstanden, dass nur Firmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden die Analysen durchführen müssen. Diese Konzessionspolitik brachte ihr auch Kritik ein – von links.
Zum festen Bestandteil der Methode Sommaruga gehören auch die runden Tische: alle relevanten Akteure einladen, ihnen zuhören, die Vorschläge des anderen prüfen, Ziele definieren und den Weg dahin festlegen. Schwarmintelligenz nutzen. Kompromisse suchen. Verbindlichkeit schaffen.
Beispiele dieser runden Tische gibt es zuhauf: beim Sorge- und Unterhaltsrecht oder bei der Entschädigung von Verdingkindern, auch bei der grossen Reform des Asylwesens oder zuletzt beim Ausbau der Wasserkraft.
Ihre Methodik kann man begreifen als tiefe Überzeugung, dass nur so gute Lösungen zu Stande kommen. Doch sie ist auch der Tatsache geschuldet, dass Sommaruga als SP-Frau aus einer Minderheitenposition heraus politisiert. Das prägt. Schon im Parlament nahm sie sich zurück, liess Vertreter anderer Parteien ihre Vorstösse einreichen, um Erfolge zu erzielen. Und wohl auch deshalb ist die 62-Jährige die Meisterin der (Selbst-)Kontrolle.
Dem Zufall überlässt sie nichts. Selbst bei der Mimik und Gestik. Schon als Geschäftsführerin der Stiftung Konsumentenschutz nahm sie während zweier Jahre Stimmtraining. Damit sich ihre Stimme in wichtigen Situationen nicht überschlägt. Oder dass sie zum Thema passt. Von munter zu heiser-betroffen – ohne Probleme.
Politik ist vor allem auch Kommunikation. Nicht nur bei der Stimmbildung. Die Worte wählte sie immer gezielt. «Jetzt muss ein Ruck durchs Land gehen», sagte sie als Bundespräsidentin im März 2020, als sie mit ihren Regierungskollegen das Land in den Corona-Lockdown schickte. Den Satz sagte sie auch auf Französisch und Italienisch. Das war ihr Muster: Dass auch jeder Journalist und jede Journalistin im Land begriff, was ihre wichtigste Botschaft war.
Diese Sommaruga-Sätze gehören zu ihr wie manchmal die etwas plumpe, sprich offensichtlich pädagogische Symbolik. Sommaruga reiste als Bundespräsidentin zum Staatsbesuch nach Wien im Nachtzug, zur Bundesratssitzung extra muros im Val Müstair nahm sie das Postauto (die Kolleginnen und Kollegen reisten im Jet oder Helikopter) und vor der CO2-Abstimmung gab es Gletscherbilder mit Skifahrerin Michelle Gisin. Hans Fehr sagte einmal, sie habe den «Charme einer Lehrgotte».
Eine Minderheit war Sommaruga aber auch lange innerhalb ihrer Partei. 1993 übernahm sie den Job als oberste Konsumentenschützerin, zuvor arbeitete die ausgebildete Konzertpianistin als Klavierlehrerin und in einem Frauenhaus. Wie Strahm in einem Essay zu ihrem 60. Geburtstag schrieb, wählte sie der Stiftungsrat der damals bedeutungslosen Organisation als preisgünstige Einsteigerin. Die Bernerin brachte neue Themen auf, wurde bekannt. 1998 wurde Sommaruga in die Exekutive der Berner Vorortsgemeinde Köniz gewählt, verantwortete dort Feuerwehr und Zivilschutz.
1999 gelang ihr die Wahl in den Nationalrat. Wie Strahm schreibt, hatte ihr die SP nicht die Aufstiegsleiter hingehalten: «Ihre politische Karriere wurde mit Volkes Stimme befördert.» Sommaruga, der Tochter eines Lonza-Werkleiters, habe der sozialdemokratische, der gewerkschaftliche und feministische Stallgeruch gefehlt.
Zur Zerreissprobe mit der Partei kam es im Mai 2010. Sommaruga präsentierte mit dem Politologen Wolf Linder, dem Bieler Historiker Tobias Kästli und dem Könizer Gemeindepräsidenten Henri Huber das sogenannte Gurten-Manifest – zehn Thesen für eine «neue und fortschrittliche Politik». Darin standen Sätze wie: «Die SP ist zu staatsgläubig und zu marktskeptisch.» Oder «Die SP akzeptiert eine Begrenzung der Zuwanderung».
Die Reaktionen innerhalb der Partei waren harsch, sie sprachen vom «Gurken-Manifest». In der Nationalratsfraktion wurde Sommaruga gemieden, ihre Sitznachbarn sprachen nicht mehr mit ihr. Sommarugas Wahl 2003 in den Ständerat nahm sich daher wie eine Flucht aus.
2010 bewarb sich Sommaruga für die Nachfolge von Moritz Leuenberger. Sie setzte sich deutlich gegen Jacqueline Fehr durch – ihre einstige Sitznachbarin im Nationalrat.
Der Amtsantritt war verbunden mit einem Knall: Die bürgerlichen Bundesräte sorgten dafür, dass Sommaruga statt das Wirtschaft- das Justizdepartement übernehmen musste. SP-Präsident Christian Levrat tobte. Als ob er ahnte, wie schwierig die folgenden Jahre werden würden – geprägt von aufreibenden Kämpfen mit der SVP.
Tiefpunkt war die Niederlage am 9. Februar 2014, als die Masseneinwanderungs-Initiative an der Urne durchkam. Sommaruga wollte im Vorfeld die flankierenden Massnahmen verschärfen – lief damit aber im Bundesrat auf. Ihre bürgerlichen Kollegen gingen davon aus, dass Sommaruga die Linke sowieso auf ihrer Seite haben würde.
In ihre Zeit als Justizministerin fiel auch die grosse Flüchtlingskrise 2015. Sie gleiste in dieser Zeit eine neue Asylreform auf. Verkürzte die Verfahren von 1400 auf 140 Tage und baute im Gegenzug den Rechtsschutz für Asylsuchende aus. Ein System, das sie auch heute noch bewährt. Und fast ganz nebenbei pflügte Sommaruga als Justizministerin auch das Zivilrecht um. Sorge-, Unterhalts- und Erbrecht wurden dem gesellschaftlichen Wandel angepasst.
Sommaruga schickte sich in ihre Aufgabe als Justizministerin, drehte an vielen Schräubchen und nahm schwierige Aufgaben als Herausforderung an. Sie versteckte sich nie hinter irgendeinem Auftrag. Sie sprach in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» offen über ihre Lust an der Macht und ihr unverkrampftes Verhältnis dazu: «Macht bietet die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen und etwas zu verändern.»
Als Doris Leuthard 2018 zurücktrat, nutzte Sommaruga die Chance und wechselte ins Infrastrukturdepartement Uvek. Rasch realisierte sie, dass die Schweiz bei der Energie zu stark auf Importe setzte, und nahm den Ausbau der Erneuerbaren an die Hand. Der Ukraine-Krieg gab dem Vorhaben dann richtig Schub. Auf die drohende Strommangellage reagierte sie: Rettungsschirm für Stromkonzerne, Einführung einer Wasserkraftreserve, Bau des Notfallkraftwerks Birr, Sparkampagnen. Ein Vier-Punkte-Programm, das sie seit Frühling bei jedem Auftritt mantramässig wiederholt.
Der Start im Uvek war indes schwierig. Die Niederlage beim CO2-Gesetz war spektakulär, auch das Mediengesetz ging bachab. Manche vermissten vor allem bei der Klimaabstimmung eine temperamentvolle Abstimmungskämpferin, wie Leuthard es war. In Sommarugas Umfeld wiederum machte man das Parlament für das Scheitern des C02-Gesetzes verantwortlich. Zu überladen. Zu wenig austariert. Zu wenig Sommaruga.
Öffentlich wirkte Sommaruga zwar angezählt, sie selbst machte aber nicht den Eindruck, amtsmüde zu sein. Auf die Frage, ob sie etwas anders oder besser machen würde, sagt sie: «Es ist nicht meine Art, zurückzublicken.» Und: «Ich habe es immer gern gemacht.» (aargauerzeitung.ch)
Ihre Entscheidung ist verständlich und nachvollziehbar. Respekt. Ich wünsch ihr alles gute für die Zukunft und eine Nachfolgerin von ähnlichem Kaliber. Ich werd Sie als Bundesrätin vermissen.