«Freiheit, Gemeinsinn und Fortschritt» – mit diesem Slogan zieht die FDP Schweiz in die nationalen Wahlen vom Oktober. So weit, so unverbindlich. An der Basis jedoch sorgte das Motto für Irritationen, genauer gesagt der mittlere Begriff: Gemeinsinn. Dieser sei kaum mit dem Freiheitsideal des Freisinns vereinbar, hiess es in einer Online-Debatte auf der Website der Partei.
Etwa die Hälfte der Teilnehmer habe sich «am neuen Kampfbegriff» gestört, so der «Tages-Anzeiger». Dabei hat es die FDP nur gut gemeint. Sie versteht Gemeinsinn nicht im Sinn von Gleichmacherei oder staatlichem Zwang, sondern als «Teil der Eigenverantwortung, als freiwilliges Engagement für die Gemeinschaft», wie der Ausserrhoder Nationalrat und stellvertretende Wahlkampfleiter Andrea Caroni ausführte.
Absolut einleuchtend. Und doch arbeitet sich ein Teil des freisinnigen Fussvolks an diesem Begriff ab. Dies sagt einiges aus über die Schweiz im Jahr 2015. Ihr geht es blendend. Kaum ein Land funktioniert besser. Wohlstand ist für weite Teile der Gesellschaft Realität geworden. Wir sind laut den Vereinten Nationen das glücklichste Land der Welt.
Aber merkt man auch etwas davon? Je besser es uns geht, umso unzufriedener sind wird. Der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler diagnostiziert im watson-Interview eine Anspruchsinflation unserer Wohlstandsgesellschaft: «Wir wollen alles haben, jederzeit an jedem Ort, aber davon nicht gestört werden und auch keine Kompromisse mehr eingehen.»
Deshalb hat Basel ein Lärmreglement erlassen, dass die Clubszene in ihrer Existenz bedroht. Deshalb haben mehr als 100 Anwohner der Zürcher Langstrasse eine Petition unterzeichnet, in der sie den allnächtlichen Partybetrieb als «stadtzerstörende Sauerei» bezeichnen. Es ist ein eigentlicher Ego-Clash: Hier die Partygänger, die sich amüsieren wollen und dabei oft keine Rücksicht nehmen, dort die Anwohner, die auf ihrer Nachtruhe beharren.
Ganz vermeiden lassen sich solche Konflikte nie, aber eindämmen, «mit Vernunft und Anstand, mit dem Prinzip leben und leben lassen», so Thomas Kessler. Er hätte auch den Begriff Gemeinsinn verwenden können. Doch wir scheinen dazu nicht mehr in der Lage zu sein. Kessler spricht von einem Mangel an Zivilcourage: «Wir gehen zu wenig aufeinander zu und können Konflikte nicht mehr von Angesicht zu Angesicht aushandeln. Wir sind uns teilweise fremd geworden.»
Wir sind ein einig Volk von Ego-Spiessern.
Weitere Beispiele gefällig? Viele Agglo-Bewohner sind aufs Land gezogen, weil sie dort vergleichsweise günstig ein Eigenheim erwerben konnten. Ins Dorfleben integrieren aber mögen sich diese Neuzuzüger nicht. Gegen das Gebimmel von Kirchen- und Kuhglocken protestieren, das können sie sehr wohl.
Wirklich krass sind jene Fälle, in denen einzelne Ego-Spiesser Projekte verzögern oder verhindern, von denen die Allgemeinheit profitieren würde. In Aarau verhindert ein einzelner Anwohner den Bau eines neuen Fussballstadions. Seine Einsprachen reicht er meist in letzter Sekunde ein, um den maximalen Verzögerungseffekt zu erzielen. Im maroden Brügglifeld, wo der FC Aarau weiterhin spielen muss, gibt es derweil kaum noch funktionstüchtige Duschen.
Zwei weitere Beisipiele aus meinem Wohnort Baden: Der Schulhausplatz, einer der meistbefahrenen Verkehrsknoten der Schweiz, muss dringend saniert werden. Nach langen Hin und Her liegt ein Kompromissprojekt vor – doch kurz vor Baubeginn hat ein Anwohner eine Einsprache eingereicht. Ebenfalls von Anrainern blockiert wird die Sanierung des Kurtheaters. Einer der Einwände ist der Schattenwurf durch die geplante neue Hinterbühne.
Schattenwurf. Ein Begriff, der die heutige Ego-Gesellschaft perfekt umschreibt.
Ins Bewusstsein gerückt ist er vor rund zehn Jahren, als das geplante neue Fussballstadion auf dem Zürcher Hardturm-Areal unter anderem damit bekämpft wurde. Seither hat er Konjunktur. Wo immer in die Höhe gebaut wird – und das ist unter dem Aspekt der Verdichtung unumgänglich –, taucht die Frage nach dem Schattenwurf auf. In Basel wagen Anwohner deswegen sogar den Aufstand gegen den mächtigen Pharmamulti Roche.
Wen kümmert es, dass der Schatten mit der Erdrotation wandert? Wir wollen Sonne, und wir wollen Ruhe, und zwar ohne Einschränkung. Unser persönliches Wohlbefinden geht über alles, Verzicht zu Gunsten des Gemeinwohls ist unerwünscht. «Diese Entwicklung stellt schlussendlich den Erfolg der Schweiz als liberales Land in Frage», meint Stadtentwickler Kessler.
Es passt deshalb ganz gut, dass gerade die FDP uns an den Wert des Begriffs Gemeinsinn erinnert. Wir könnten ihm nachleben, wenn wir denn wollten. Wer unbedingt an der Langstrasse wohnen will, muss eine gewisse Lärmbelastung in Kauf nehmen. Und wer an der Langstrasse in den Ausgang geht, sollte sich auch bei hohem Alkoholpegel einigermassen benehmen. Und nicht in Hauseingänge pissen oder kotzen. Auch das ist Ausdruck von Ego-Spiessertum.