Ein Hammerschlag nach dem anderen. So beschreibt Corinne Widmer Ereignisse aus den 44 Jahren ihres Lebens. Diesen Eindruck kriegt auch, wer den Lebenslauf der kleinen, zierlichen Frau liest und ihre Erzählungen dazu hört. Hinter verschiedenen Jobwechseln und mehreren Lücken im CV stecken zwei Krebserkrankungen und ein Burn-out. Damit lassen sich auch eine wiederholt verlorene Existenz und ein kaputtes soziales Umfeld erklären. «Ich habe immer gekämpft», sagt Widmer.
Dann kam der laut Widmer bisher schwerste Schlag. Der steht nicht im Lebenslauf, und davon zu erzählen, ist nicht einfach. Widmer macht es trotzdem, und ab und zu kommen ihr die Tränen hoch. Widmer hat CFS.
Die drei Buchstaben bestimmen ihr Leben. Dahinter steckt das kaum erforschte, nicht behandelbare und nicht anerkannte «chronic fatigue syndrome» – die chronische Erschöpfungserkrankung.
CFS ist eine Erkrankung des Nervensystems. Dazu gehören chronische Erschöpfung und extremer Erholungsbedarf nach Belastung. Einige Betroffene können damit arbeiten – andere sind komplett ans Bett gebunden und auf Pflege angewiesen. Laut dem Verein CFS Schweiz gibt es zwischen 10'000 und 20'000 Betroffene in der Schweiz – und «zwei Handvoll Ärzte», die sich damit auskennen. Eine stichfeste Diagnose zu erhalten, ist schwierig; und damit auch CFS als Ursache für Arbeitsunfähigkeit geltend zu machen, um so etwa Beiträge von der IV zu erhalten. Eine erfolgreiche Therapieform gibt es bis heute nicht.
Widmer, ursprünglich aus dem Baselbiet, heute im Bezirk Lebern wohnhaft, erhielt ihre Diagnose vor rund einem Jahr. Ein Arzt, der eine Zeit lang versuchte, CFS bekannter zu machen und ein Experten-Netz aufzubauen – dies aber wieder aufgegeben hat – stellte die Diagnose. Wobei es in der Akte auch nur heisst: «Am ehesten CFS» – dies nach einigen Tests und Ausschluss anderer Krankheiten. Ein weiteres Zeichen dafür, dass das Wissen über CFS noch sehr klein ist. Konkrete Beweise für die Erkrankung und die Leistungsverminderung deswegen hat Widmer nicht. Nur diese Bemerkung «Am ehesten CFS». Der Arzt habe ihr geraten, Stress zu vermeiden, einen Ausgleich zwischen Ruhe und Belastung zu schaffen – und es bei der IV gar nicht erst mit einem Gesuch um finanzielle Unterstützung zu versuchen.
Einerseits war Widmer erleichtert, endlich hatte sie einen Namen für ihr Leiden, welches sie seit Monaten und bis heute plagt. Sie erwacht frühmorgens unausgeruht, steht unter Schmerzen, Schwindel und Übelkeit auf – braucht je nach Tagesform auch tagsüber wieder Pausen, schläft spätnachmittags oft im Sitzen ein und muss vor 20 Uhr ins Bett. Wenn es ganz schlimm ist, kommt Widmer während Tagen nicht mehr aus dem Bett.
«Zuvor dachte ich, ich verliere den Verstand, bilde mir etwas ein», sagt Widmer. Mit der Diagnose hatte das Leiden einen Namen. Viel mehr brachte es Widmer aber nicht; warum sie CFS hat, wie sich die Krankheit entwickeln wird, und wie sie diese kurieren kann, weiss sie auch heute nicht. Die drei Buchstaben bringen dafür – neben den körperlichen Beschwerden – auch ganz andere Probleme in Widmers Alltag.
Bis Ende 2017 war die gelernte Kauffrau noch fest angestellt, ihr Pensum konnte sie aber irgendwann aufgrund der chronischen Erschöpfung und der nicht berechenbaren schlimmen Schübe nicht erfüllen. Sie verlor die Stelle, nachdem sie ihr Leiden und CFS offengelegt hatte. Seit 2018 ist sie beim RAV angemeldet und sucht verzweifelt nach Stellen – seither ohne CFS zu erwähnen.
«An interessanten Inseraten mangelt es nicht», sagt Widmer. An einer soliden Ausbildung, Erfahrungen aus Anstellungen bei verschiedenen Firmen und in verschiedenen Bereichen auch nicht. Genau dieser Lebenslauf führt Widmer aber auch in eine Art Zwickmühle. Die Lücken im Lebenslauf und die Krankengeschichte dahinter führen einerseits zu grosser Skepsis bei Firmen; dem Gefühl, dass Widmer dem Job nicht gewachsen wäre. Die verschiedenen Stationen und Fähigkeiten, die der Lebenslauf auch aufzeigt, führen andererseits dazu, dass es bei einfacheren Jobausschreibungen heisst, Widmer sei überqualifiziert. Würde sie jedoch erklären, dass sie nicht mehr so viel schaffe oder gar vom CFS berichten – so die Befürchtung der 44-Jährigen – würden dann aber wieder die Alarmglocken läuten. Weshalb sie wieder nicht eingestellt würde. «Ich will niemanden überfahren.» Und: «Ich kriege keine Chance, zu zeigen, was ich noch kann.»
Widmer wünscht sich einen Arbeitgeber mit Verständnis für ihre Krankheit; eine Aufgabe, die sie dem eigenen Rhythmus anpassen kann, im Homeoffice, wo Arbeitsweg und Büroalltag sie nicht zusätzlich ermüden. Eine Stelle nach genau diesen Vorstellungen zu finden, ist aber schwierig. Bisher unmöglich. «Mit meinen 44 Jahren bin ich beruflich offenbar nichts mehr wert», so das Fazit von Widmer. Trotzdem bewirbt sie sich weiter. Stelle um Stelle. Und erhält Absage um Absage. Bis Ende Januar erhält sie noch Arbeitslosengeld. Dann würde sie zum Sozialfall. Doch das, so Widmer, wäre das Schlimmste.
«Menschen und Firmen schenken einem Beachtung, so lange man mit dem Strom schwimmen kann. Wenn einem dies aber nicht mehr möglich ist, so wie es einst mal war, dann wird man aussortiert; links liegen gelassen.» So hat Widmer aufgrund von CFS auch im Privatleben schlechte Erfahrungen gemacht. Oft hat sie gehört: «Auch ich bin manchmal müde.» Oder: «Reiss Dich doch mal zusammen.» Beziehungen kosten Energie, heute überlege sie sehr sorgfältig, wo sie die noch investieren wolle. Dazu kommt: Auch Kinobesuche oder Restaurantbesuche liegen nicht drin. Widmer ist oft alleine in der Wohnung, bei ihren beiden Katzen, schläft, sieht fern. Wenn es ihr gut geht, schafft sie am Wochenende einen Spaziergang und geniesst die Natur. «Ich habe gelernt, Dinge zu schätzen, die mir niemand nehmen kann.» Die Dachwohnung sei ihre «Oase», so die 44-Jährige. «Hier kann ich tanken.»
Widmer hat nun aber Angst, dass ihr genau diese Dinge, die ihr noch Kraft geben, weggenommen werden. Und zwar durch den Gang zum Sozialamt, den Bezug von Sozialhilfe. Sie würde Wohnung, bisherige Struktur verlieren, ist sie überzeugt. Der Schritt in die Arbeitswelt würde grösser. Ich kämpfe dafür, mit dieser Krankheit leben zu können – in einem Umfeld, das das auch kann», sagt Widmer zwischen Tränen und Erzählungen. Doch auch die Ungewissheit kostet Energie, die Widmer eigentlich nicht hat. Die Angst, kränker zu werden, vielleicht einmal ganz bettlägerig.
Sie wolle aber weiterhin versuchen, Arbeit zu finden. «Die Einzige, die weitermachen kann, bin ich.» So versucht sie auch, eine krebsbedingte Erschöpfung abklären zu lassen – hierfür gab es in der Vergangenheit nämlich schon Zusprüche von der IV. Eine Stelle oder ein Beitrag würden Widmer entlasten, den Gang zum Sozialamt aufschieben oder verhindern. «Ich hoffe einfach auf eine gute Wende», sagt Widmer. «Nach all diesen Hammerschlägen.»
Meine Frau leidet ebenfalls seit Jahren an dieser Krankheit und stösst regelmässig auf Unverständnis und Ignoranz vonseiten Medizinern, Fachleuten und Umfeld. Was man nicht sehen kann, lässt sich eben nur schwer erklären.
Mittlerweile wird CFS immer mehr thematisiert und wird hoffentlich in weiteren Kreisen zum Begriff. Von einer Anerkennung der Krankheit oder gar mehr Mitteln für die Forschung wagt man leider noch gar nicht zu träumen.
Meine Frau leidet seit 17 Jahren an dieser Krankheit. Der Name CFS ist sehr umstritten und die Patienten wie auch viele Experten bevorzugen den Begriff ME (Myalgische Enzephalomyelitis). Untersuchungen zeigen, dass viele Ärzte die Krankheit gerade wegen des Namens nicht ernst nehmen.
Der Name CFS ist ein Euphemismus. Meine Frau ist beinahe vollständig bettlägerig, leidet konstant unter extremsten Schmerzen und weiteren Symptomen und ist zu schwach für die einfachsten Tätigkeiten. An schlimmen Tagen muss ich sie stützen, damit sie es auf die Toilette schafft.
Wer gesund und leistungsfähig ist, kann sich kaum vorstellen, was eine solche Diagnose bedeutet.
Es ist ja nicht so, dass Betroffene sich einfach damit abfinden oder aufgeben, auch wenn die Kraft kaum mehr reicht.
Das Schlimmste ist die Ungewissheit und fehlende Unterstützung, die Perspektivenlosigkeit, sowie die Angst auf unabsehbare Zeit alles zu verlieren.
Deshalb ist es so wichtig, den Betroffenen und Angehörigen eine Stimme zu geben und vor allem Unterstützung.
Dies wird durch die Politik bzw. Stigmatisierung und die SVA erschwert oder verunmöglicht.