Jetzt ist jeder und jede selber für seine Gesundheit verantwortlich. Das hat der Bundesrat verkündet, als er mit der Masken- und Zertifikatspflicht zentrale Schutzmassnahmen aufgehoben hat. Auf die Situation besonders gefährdeter Personen angesprochen, sagte Bundesrat Ignazio Cassis an der Pressekonferenz vom 16. Februar: «Diese Menschen gab es vor der Pandemie, während der Pandemie, und es gibt sie auch nach der Pandemie.»
Eine, die jetzt selber schauen muss, ist Elisa Olivieras*. Sie will sich nicht mit Omikron anstecken. «Man sieht mir nicht an, dass ich krank bin, aber ich kann mir eine Infektion mit Omikron nicht leisten», sagt die 22-Jährige. Olivieras hat Multiple Sklerose, kurz MS. Ihr eigenes Immunsystem attackiert die Nerven in Rückenmark und Gehirn. Weil sie Anfeindungen befürchtet, will sie anonym bleiben.
Olivieras hat Angst, in Geschäfte oder Räume zu gehen, wo niemand eine Maske trägt. «Ich trage immer eine FFP2-Maske, aber das schützt mich nicht gleich gut, wenn niemand sonst eine trägt.» Geboostert sei sie auch, doch ihre Medikamente schwächten den Impfschutz extrem.
Wie gefährlich eine Infektion wäre, können ihr die Ärztinnen und Ärzte nicht sagen. Der MS-Gesellschaft Schweiz zufolge muss geschätzt jede fünfte Person mit MS, die sich mit dem Virus angesteckt hat, ins Spital. Drei bis fünf Prozent müssen auf der Intensivstation behandelt werden.
Auf die Frage, wie sie sich vor der Pandemie vor Krankheiten geschützt habe, sagt Olivieras bestimmt: «Ich war schon vorher sehr vorsichtig.» Sie fügt an: «Corona ist für mich deutlich gefährlicher als beispielsweise eine Grippe. Wie viele Autoimmun-Erkrankte habe ich Antikörper aus meiner Kindheit.» Das MS sei bei ihr im Alter von 16 Jahren ausgebrochen.
Ihr wäre es lieber gewesen, wenn der Bundesrat zumindest die Maskenpflicht in gewissen Bereichen beibehalten hätte, wie in den Geschäften oder Schulen. «Ich frage mich schon, weshalb man den freiwillig Ungeimpften beispielsweise mit Gratis-Tests entgegengekommen ist, und uns geimpfte Risikopatientinnen und -patienten lässt man im Stich.»
Elisa Olivieras ist nach Schätzung des Eidgenössischen Departements des Innern eine von 2,6 Millionen besonders gefährdeten Personen. Eine unpräzise Zahl, kritisiert die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle. Die Behörden stufen unterschiedliche Gruppen als besonders gefährdete Personen ein, darunter Alte, Schwangere, Erwachsene mit Trisomie 21, MS, Krebs und andere chronische Krankheiten. «Einen 67-jährigen, fitten Herren kann man nicht gleichsetzen mit einer jungen, immunsupprimierten Patientin», so die Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik.
Es müsse klar werden, wer überhaupt als vulnerable Personen gilt und welche Möglichkeiten sie haben, sich selber zu schützen. «Wir müssen anfangen, genau zu definieren und differenzieren», sagt Baumann-Hölzle.
Wie sehr sich eine Gesellschaft für vulnerable Menschen einschränken soll, stelle ein ethisches Dilemma dar, sagt die Medizinethikerin. «Einerseits müssen Einschränkungen verhältnismässig sein. Beispielsweise ist bei Kindern zu beachten, dass Massnahmen keinen grösseren Schaden anrichten, als sie nützen.» Auf der anderen Seite dürfen Vulnerable nicht unfair behandelt werden. «Unsere Verfassung beinhaltet das Recht auf Leben und Integrität. Das haben alle. Auch vulnerable Menschen müssen sich frei bewegen können.»
Baumann-Hölzle fordert, dass die Behörden vulnerable Gruppen miteinbeziehen. «In der Euphorie der Öffnung finde ich es wichtig, dass man seitens der Behörde die jetzige Situation evaluiert. Sie müssen bereit sein, auszuwerten, zuzuhören und die Konsequenzen daraus ziehen.»
Bund und Kantone bemühen sich, das Krisenmanagement in der Pandemie zu evaluieren. Es sind unterschiedliche Analysen geplant oder bereits in Arbeit, berichtet die «Sonntagszeitung».
In diese Analysen und Gespräche würde sich die IG Risikogruppe Schweiz gerne einbringen. Gründerin Eveline Siegenthaler setzt sich für die Interessen von Risikopatientinnen und -patienten ein. Doch ihre Bemühungen blieben unbeantwortet. «Bis jetzt sind wir von keiner Behörde angefragt worden, obwohl regionale Politikerinnen und Politiker Bescheid wissen.» In ihren Augen wäre eine praktikable Lösung, dass es analog zu den Long-Covid-Sprechstunden bei Spitälern Anlaufstellen für Betroffene gibt.
Dass man die Pandemiepolitik analysiere, sei gut, sagt Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel. Doch die Gesundheitspolitikerin will bei einem grundlegenderen Problem ansetzen: «Wir haben eine miserable Basis von Gesundheitsdaten. Mit einer besseren Statistik könnte man sehen, wie viele Menschen durch die jetzige Situation stark gefährdet sind.»
Humbel hat bereits mehrere Vorstösse zum Thema im Parlament eingereicht, Gesundheitsminister Alain Berset lehnt sie allerdings ab. Nun will Humbel das elektronische Patientendossier, das momentan kaum genutzt wird, praxistauglich und benutzerfreundlich umgestalten. Die Gesundheitskommission hat Anfang Februar einem entsprechenden Vorstoss zugestimmt.
*Name der Redaktion bekannt.
Das ist jetzt wirklich keine grosse Einschränkung.....
Und ich wäre froh wenn in den ÖV wo das Maskentragen noch gilt auch ab und zu mal kontroliert weden würde .....
Bin selbst Risikopatientin, jung und arbeitstätig. Mich völlig zu isolieren kommt für mich nicht in Frage, aber eine FFP2-Maske gehört nun zu meiner Standardausrüstung. Leider schützt diese allein nicht vollständig und ich habe mich in der Zwischenzeit mit dem Virus angesteckt…
So viel Solidarität ist doch Einfach.