Die Semesterferien sind vorbei und in der Schweiz starten die Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen im Präsenzunterricht. Und das weitgehend ohne Masken- oder Zertifikatspflicht, wie sich nach dem Bundesratsentscheid am Mittwoch abgezeichnet hat.
Für Anja Seiler eine schwierige Ausgangslage. Die Theologiestudentin leidet an einer chronischen Lungenkrankheit. Tragen die Leute im Vorlesungssaal keine Maske, kann sie nicht am Unterricht teilnehmen. «Das Risiko ist zu hoch, ich kann mir das nicht leisten», sagt Seiler. Ihren richtigen Namen will sie hier nicht lesen, sie fürchtet, von der Studiengangsleitung schlechter behandelt zu werden.
Man könne bilateral Lösungen finden, hiess es von ihrer Hochschule. Für Seiler ist das nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. «Eigentlich heisst das, ‹ihr müsst selber schauen›. Sie kommunizieren das zwar nicht in diesen Worten, aber es schwingt mit.» Eine FFP2-Maske schütze sie zwar, doch das Risiko einer Ansteckung bleibe und werde erhöht, wenn niemand sonst eine Maske trage, sagt Seiler. «Hinzu kommt die psychische Belastung, wenn man als einzige Person eine Maske anhat. Nach zwei Jahren bin ich all die Kommentare leid und echt müde, mich für meine Vorerkrankung zu rechtfertigen.»
Seiler fällt es schwer, in dieser Situation Forderungen zu stellen. «Ich freue mich ja für alle, die zur Normalität zurückkehren können. Gleichzeitig habe ich auch Bedürfnisse.» Sie hätte sich gewünscht, dass Risikopatientinnen und -patienten stärker in den Entscheidungsprozess miteinbezogen worden wäre. Jegliche Hoffnung darauf habe der Bundesrat am Mittwoch zunichtegemacht, so die Fünftsemesterin. «Ich sehe nicht, ob ich das Studium in dieser Situation beenden kann. Momentan überlege ich mir tatsächlich, aufzuhören.»
Der Bundesrat hat letzten Mittwoch praktisch alle Massnahmen aufgehoben. Die meisten Hochschulleitungen taten es ihm gleich. So entfallen trotz Präsenzunterricht beispielsweise für die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen in Bern die Zertifikats- und Maskentragpflicht. Das Gleiche gilt für die Fachhochschulen Graubünden und Zürich oder die Universitäten St.Gallen, Luzern und Basel. Weiterhin empfohlen wird das Maskentragen in überfüllten Räumen, Hände waschen und Abstand halten. Personen mit Krankheitssymptomen sollen zu Hause bleiben und sich testen lassen. Positiv getestete müssen sich nach wie vor isolieren.
Bei der Universität Luzern verteidigt Mediensprecher Lukas Portmann den Entscheid. Man orientiere sich an den Vorgaben von Bund und Kanton. «Jedem und jeder steht es weiterhin frei, eine Schutzmaske zu tragen und sie sollen sich frei fühlen, das zu tun. In diesem Sinne haben wir das Semester unter den Leitsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme gestellt.»
Einzig die Universität Zürich behält die Maskenpflicht vorerst bei. Sie gilt bei curricularen Veranstaltungen. Das ist ein Grossteil der Kurse, die für Studierende obligatorisch sind. Mediensprecher Kurt Bodenmüller erklärt: «Unsere Überlegung ist, dass man bei freiwilligen Kursen ausserhalb des Lehrplans eine Wahl hat, ob man teilnehmen will oder nicht. Von den Curricularen hängt hingegen das Bestehen des Studiums ab. Vulnerable Personen sollen da nicht benachteiligt werden.» In öffentlichen Räumen wie der Universitäts-Mensa muss man allerdings keine Masken tragen und die Zertifikatspflicht ist ganz aufgehoben.
Digitale Unterrichtsformen werden an den meisten Orten nicht mehr grundsätzlich angeboten. Allerdings gibt es Ausnahmen wie an den Universitäten Luzern oder Zürich, wo gewisse Lehrveranstaltungen als Podcast oder im Livestream angeboten werden. Viele Hochschulen lassen diesen Punkt offen, indem sie festlegen, dass ein solches Angebot den einzelnen Studiengangsleitungen oder Dozierenden obliege.
Beim Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) freut man sich, dass der Präsenzunterricht wieder aufgenommen wird. «Für Studierende ist der Kontakt zu anderen Studis und das ganze Umfeld an den Hochschulen wichtig», sagt VSS-Co-Präsident Elischa Link.
Trotzdem soll der Schulbetrieb nicht ohne Reflexion zum Status vor Corona zurückgehen. Link kritisiert: «Die Massnahmen wurden sehr schnell aufgehoben. Es gibt Studierende, die sich unwohl fühlen ohne Masken- und Zertifikatspflicht.» Er fordert, dass die Hochschulen auf vulnerable Personen zugehen und ihre Stimmen wahrnehmen.
Das Tempo, mit dem die Massnahmen aufgehoben wurden, stören viele Risikopatientinnen und -patienten. Anfang Februar haben sie sich in der Interessensgruppe «IG Risikogruppe» zusammengeschlossen. Das aktive Forumsmitglied Eveline Siegenthaler beschwert sich gegenüber der Aargauer-Zeitung: «Gefährdete Personen müssen sich faktisch freiwillig aus der Gesellschaft aussperren.» Die IG Risikogruppe erwarte einen Plan zum Schutz der vulnerablen Personen.
Digitaler Unterricht wäre nicht nur für Leute mit gesundheitlichen Einschränkungen praktisch. Man könnte die sozalien Disparitäten bekämpfen, da die Eltern nicht mehr zwingend für eine WG aufkommen müssen, wenn jemand am "falschen" Ort in der Schweiz wohnt. Man könnte Studierenden mehr internationale Erfahrungen ermöglichen, ohne etwas zu verpassen. Auch teilnahmen an Konferenzen würden einfacher.