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Methadon-Engpass: «Die Patienten haben Angst»

Judith Holdener, Pharmaassistentin, Mohannad Abou Shoak, leitender Arzt und Leela Ritter, medizinische Praxisassistentin arbeiten zusammen im Fachspital Sune-Egge.
Judith Holdener, Pharmaassistentin, Mohannad Abou Shoak, leitender Arzt und Leela Ritter, medizinische Praxisassistentin arbeiten zusammen im Fachspital Sune-Egge. Bild: Juliette Baur

Fachpersonen über möglichen Methadon-Engpass: «Unsere Patienten haben Angst»

Die Bewilligung des grössten Schweizer Methadontabletten-Herstellers, der Amino AG, wurde sistiert. Der Vertrieb und die Produktion der Methadontabletten steht still. Drei Fachpersonen aus dem Spital Sune-Egge schildern, was der Gedanke an einen möglichen Methadon-Engpass bei ihren Patienten auslöst.
10.01.2023, 05:2111.01.2023, 07:04
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Der Sune-Egge ist ein etwas anderes Spital: An diesem Ort erhalten sozial benachteiligte Menschen mit kombinierten physischen und psychiatrischen Erkrankungen ambulante und stationäre Behandlungen. Für Menschen aus dem Sucht- und Obdachlosenmilieu ist der Sune-Egge, der zur Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber gehört, eine wichtige Anlaufstelle. Hier werden sie verstanden und es wird ihnen geholfen.

Am Montagmorgen herrscht reger Betrieb: Der Pöstler liefert die ersten Pakete und wird an der Türe von einem Patienten, der sich per Zufall auch am Empfang aufhält, freundlich begrüsst. «Soll ich dir mit den Paketen helfen?», fragt er den Pöstler. Dieser hat seine Ladung schon vollständig platziert und lehnt deshalb dankend ab. Dieses Stimmungsbild ist bezeichnend für das ganze Spital, obwohl Hektik herrscht, begegnet man sich mit Respekt und Anstand.

watson ist jedoch nicht für eine Analyse des Stimmungsbilds vor Ort. Viel mehr interessiert, wie die Fachpersonen die Konsequenzen eines möglichen Methadon-Engpasses einschätzen. Und wie diese oft erwähnte und wenig erklärte Methadon-Therapie überhaupt funktioniert.

Hintergrund: Bewilligungsentzug Amino AG

Seit dem 8. Dezember 2022 darf die Firma Amino AG keine Medikamente mehr produzieren und verkaufen. Grund: Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic hat die Betriebsbewilligung und alle Arzneimittelzulassungen der Amino AG aus Sicherheitsgründen ausgesetzt. Problem: Die Amino AG ist die grösste Methadontabletten-Herstellerin in der Schweiz.

Die Sistierung der Bewilligung für die Amino AG gilt, bis die firmeninternen Mängel behoben worden sind, dies schreibt Swissmedic in einer Medienmitteilung. Die Sistierung könnte laut Experten zu einem Engpass führen.

Für den Entzug der Bewilligung gibt es mehrere Gründe. Begonnen hat alles 2017 mit einem Einbruch von Jugendlichen in zwei Liegenschaften der Amino AG. Danach wurden immer mehr Mängel publik, die im Dezember schliesslich zur Sistierung der Bewilligung geführt haben.

Wie akut ist die Situation im Fachspital?

Von der Sistierung könnte der Sune-Egge, der auf der kantonalen Spitalliste ist und einen offiziellen Versorgungsauftrag hat, betroffen sein.

Judith Holdener, Pharmaassistentin, ist aktuell positiv eingestellt und erklärt, dass im Sune-Egge in den nächsten Wochen noch kein Engpass besteht. Zudem habe sie Hoffnung, dass die Firma Amino eine Lösung finden würde, damit dieses wichtige Medikament wieder produziert und vertrieben werden könne. Es gebe auch Alternativen, beispielsweise Flüssigmethadon oder retardiertes Morphin. Diese würden nicht von der Amino AG hergestellt, schildert die Pharmaassistentin.

Der leitende Arzt, Mohannad Abou Shoak, hält zu den Alternativen zum Methadon fest, dass deren Wirkung anders sei, als die des Methadons. Einige seien zum Beispiel nicht sedierend. Deswegen denkt er, dass einige Patienten diese Alternativen ablehnen könnten.

Doch es gibt auch andere Probleme: Retardierte Morphinpräparate könne man zum Beispiel bei Nierenproblemen nicht verabreichen, da bleibe in manchen Fällen nur das Methadon als wirkungsvolles Mittel übrig, schildert Abou Shoak.

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Dieses Medikament könnte bald knapp werden.Bild: Juliette Baur

Holdener ist der Umstellung gegenüber ebenfalls kritisch eingestellt: «Für die Patienten bedeutet es eine grosse Unsicherheit. Viele von ihnen nehmen es schon über Jahre hinweg. Das Medikament ist für sie sehr wichtig. Ich kann nur für unser Haus sprechen: Wir haben aktuell noch genug. Ich denke nicht, dass jemand verzichten muss.»

Die grossen Mehrkosten, die mit dem Import von Methadon aus dem Ausland einhergehen würden, könnten ein weiteres Problem darstellen. Die Pharmaassistentin hält hierzu fest, dass man sich im Sune-Egge mit der Bestellung aus dem Ausland noch nicht intensiv auseinandergesetzt habe. «Es wird aktuell viel spekuliert. Aber wir verlassen uns auf den Bund. Dieser und Swissmedic werden bestimmt reagieren. Jede andere Option wäre fatal», so Holdener.

Wie gehen die Patienten mit der Situation um?

Mohannad Abou Shoak und seine Kollegin, Leela Ritter, medizinische Praxisassistentin, die beide an der Front sind, heben hervor, dass die aktuelle Situation dennoch nicht unproblematisch sei.

Ritter kennt die Sorgen der Patientinnen und Patienten, diese seien oftmals sehr fixiert auf das Methadon und nicht offen für einen Wechsel: «Die mögliche Umstellung macht den Patienten Angst.»

Auch Abou Shoak ist dieser Meinung: «Einige Patienten waren über Jahre hinweg auf der Strasse und sind durch den exzessiven Heroinkonsum an ihre absoluten Tiefpunkte gestossen. Die Stabilisierung mit Methadon war für viele ein schwieriger und langwieriger Prozess. Das Methadon ist für sie ein sicherer Anker, der sie von der Strasse weggebracht hat. Wenn dieser plötzlich verschwindet, könnte das zu einer massiven Verschlechterung ihres psychischen Zustands führen. Gewisse könnten dann sogar wieder zurück auf die Strasse gehen, um Heroin zu konsumieren.»

«Eine Patientin hat mir heute Morgen erklärt, dass es für sie eine Katastrophe wäre, wenn es kein Methadon mehr gäbe.»
Mohannad Abou Shoak, leitender Arzt

Die drei sind sich einig: Die Unsicherheit bei den Patienten ist zum aktuellen Zeitpunkt gross. Es sei schliesslich auch überall in den Medien, wirft Judith Holdener ein. Abou Shoak bestätigt die Aussagen seiner Kollegin: «Die Menschen fragen uns, ob sie noch zu ihrem Methadon kommen werden. Sie haben Angst. Eine Patientin hat mir heute Morgen erklärt, dass es für sie eine Katastrophe wäre, wenn es kein Methadon mehr gäbe.»

Wie funktioniert eine Methadon-Therapie?

Der Sune-Egge ist ein Fachspital mit 30 Betten und gleichzeitig ein Ambulatorium. Hier arbeitet ein grosses Team zusammen: Ärzte und Ärztinnen, Pflegende, medizinische Praxisassistentinnen, Pharmaassistentinnen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Seelsorger und Wundexpertinnen.

Suchtpatienten erhalten ambulant ihre Opioid-Agonisten-Therapie und werden hausärztlich betreut.

Während dieser Therapie werden den Menschen, die zum Beispiel heroinabhängig sind, andere Opioide verabreicht. Eines der Opioide, das oft eingesetzt wird, ist Methadon.

Diese Therapieform ist von der WHO offiziell anerkannt. Denn die Opioid-Agonisten-Therapie mit Methadon und anderen Ersatzprodukten war eine der wichtigsten von verschiedenen politischen Massnahmen für die Lösung des Drogenproblems der 80er- und 90er-Jahre.

Im Sune-Egge sind 40 Patienten in dieser Opioid-Agonisten-Therapie. Doch bevor eine Methadon-Therapie überhaupt starte, müsse abgeklärt werden, ob die Person tatsächlich opioidabhängig ist: «So können wir einen Missbrauch ausschliessen und sind uns sicher, dass die Person das Methadon nicht gegen Kokain oder ähnliches dealt», erklärt Abou Shoak.

Wenn man sichergestellt habe, dass die Person tatsächlich an einer Opioidsucht erkrankt sei, beginne man relativ schnell mit der Therapie, so Abou Shoak. «Man beginnt mit einer niedrigen Dosis. So kann man eine Intoxikation, eine Überdosis, vermeiden. Die Dosis erhöht man, bis der Patient keine Entzugserscheinungen mehr hat. Das Ziel ist, dass der ‹schmutzige Beikonsum› auf der Strasse abnimmt», führt er aus.

Was sind Ziele der Methadon-Therapie?

Auf die Frage hin, ob dann nicht Ziel sei, dass die Menschen gänzlich auf den Heroinkonsum verzichten, antwortet Abou Shoak, dass das primäre Ziel einer Methadon-Therapie nicht sei, dass die Menschen ganz wegkommen würden vom Heroin. Aber mithilfe der Therapie könne Schadensminderung betrieben werden. «Die Patienten entwickeln eine Toleranz und sind geschützt gegenüber Überdosierungen», so Abou Shoak.

«Das oberste Ziel ist, dass die Menschen auf der Strasse nicht mehr an Überdosen sterben.»
Mohannad Abou Shoak, leitender Arzt

Warum die Toleranz wichtig ist, erklärt er wie folgt: «Wenn eine süchtige Person eine Woche kein Heroin konsumiert und sich dann wieder die gewohnte Ladung injiziert, kann dies zu einer Überdosis führen, denn sie hat keine Toleranz mehr dafür. Wenn eine Person aber eine Methadon-Therapie macht, ist das nicht der Fall, denn das Methadon macht sie tolerant. Es geht also nicht primär darum, dass die Menschen von den Drogen wegkommen. Das oberste Ziel ist, dass die Menschen auf der Strasse nicht mehr an Überdosen sterben.»

Es sei natürlich schön, wenn man grössere Erfolge beobachtet: «Viele Menschen finden dank des Methadons auch wieder in den sozialen Alltag zurück. Sie können wieder arbeiten und sich mit ihren Freunden und Familien treffen. Ohne dass sie von dem Suchtdruck des Heroins getrieben werden.»

Verglichen zu den 80er- und 90er-Jahren habe das Heroinproblem heute, zu grossen Teilen dank der Opioid-Agonisten-Therapie, an gesellschaftlicher Dringlichkeit verloren, so Abou Shoak. Der Arzt resümiert: «Opioid-Agonisten-Therapie ist eine sehr erfolgreiche Therapieform. Deswegen ist es wichtig, dass man eine Lösung für einen möglichen Methadon-Engpass findet.»

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19 Kommentare
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NullAchtFünfzehn
10.01.2023 07:42registriert März 2020
Methadon hat immerhin den Vorteil, dass es in flüssiger Form von praktisch jedem Apotheker selbst hergestellt werden kann.
Aber es ist nachvollziehbar, dass bei Abhängigkeit, der Wechsel auf ein neues Medikament schwierig sein kann und Ängste auslöst.
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