Die Bevölkerung des seit November evakuierten Bündner Bergsturzdorfes Brienz/Brinzauls muss sich mit dem Gedanken anfreunden, das Dorf möglicherweise ganz aufzugeben. Experten können weitere Evakuierungen in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht ausschliessen.
Das erklärten beigezogene Naturgefahrspezialisten am Donnerstagabend an einem Informationsabend für die evakuierte Bevölkerung in der vollbesetzten Mehrzweckhalle der Schule in Tiefencastel. Der im Bau befindliche Entwässerungsstollen wirkt sich zwar positiv auf das Abrutschen des ganzen 90-Seelen-Dorfes hat offenbar keinen Einfluss auf die instabile sogenannte «Schutthalde» im bröckelnden hohen Berghang darüber.
«Auch wenn das Dorf wieder bewohnt werden kann, ist deshalb davon auszugehen, dass es wieder zu Evakuierungen kommen kann», sagte Andreas Huwiler, Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten vom kantonalen Amt für Wald und Naturgefahren.
Die «Schutthalde» könnte zwar in flacheres Gebiet abrutschen und die von ihr ausgehende Gefahr dadurch entschärft werden. Wahrscheinlicher sei, dass bei Starkniederschlägen Evakuierungen nötig würden. «Wir können nicht ausschliessen, dass solche mehrmals im Jahr nötig werden», sagte Huwiler.
Auch wegen des instabilen Plateaus ganz oben im Rutschhang könne es in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu wiederkehrenden Evakuierungen des Dorfes kommen. Immerhin könne der Frühwarndienst die Gefahr gut voraussagen.
Die Lage sei nicht von den Behörden erzwungen worden, betonte Gemeindepräsident Daniel Albertin an die Adresse der Brienzer Bevölkerung. Er reagierte damit auf kritische Stimmen aus dem Dorf in den letzten Monaten. «Die Natur gibt uns die Situation vor», sagte Albertin. «Wir müssen die Situation zusammen bewältigen.» Die am Informationsabend anwesende Bevölkerung reagierte mit Applaus auf Albertins Appell.
«Jetzt sind wir dort angelangt, dass wir uns Gedanken machen, ob es richtig ist, in Brienz um jeden Preis weiter leben zu wollen», erklärte der Gemeindepräsident. «Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, auch über ein Nutzungsverbot sprechen», so Albertin. Es sei an der Zeit, sich diese Gedanken zu machen. Die Bevölkerung werde bei Umsiedlungsentscheiden mit einbezogen, versicherte er.
«Wir sind schon im achten Jahr in der Bewältigung der Krise, die kein Ende nimmt», resümierte der Gemeindepräsident. Das fordere alle und mache müde. Aus finanzieller Sicht habe man eine Lösung, auch für Zweitheimische. Die Fragerunde in der Schulhalle zeigte denn auch, dass viele Sorgen der Evakuierten Finanzielles betreffen, insbesondere Fragen zur Höhe der Entschädigung für aufgegebenes Wohneigentum.
Raumplaner legten bereits mögliche Standorte für Umsiedlungen fest. Dazu gehören mehrere Dörfer in der Talgemeinde Albula/Alvra. Dabei sind Tiefencastel, Alvaneu und Vazerol. Bis Ende September haben die Menschen aus Brienz Zeit, sich Gedanken zu machen, ob sie noch vor einer allfälligen Aufgabe des ganzen Dorfes die präventive Umsiedlung nutzen wollen.
Immerhin können die evakuierte Bevölkerung und die Zweitwohnungsbesitzenden ab Montag täglich von 9 bis 19 Uhr ins Dorf zurückkehren. Eine momentane Entspannung der kritischen Situation macht das möglich. Die Gefahrenstufe für Brienz wird von Rot auf Orange gesenkt.
«Sobald uns Experten versichern dass es sicher ist, lassen wir sie von einer Stunde auf die andere auch wieder im Dorf schlafen», sagte Albertin. Aber das können man zu dieser Stunde nicht.
Brienz/Brinzauls ist seit Menschengedenken in Bewegung: Die gesamte Hangterrasse rutscht vermutlich seit der letzten Eiszeit talwärts. In den vergangenen 100 Jahren bewegte sich das Dorf jeweils wenige Zentimeter pro Jahr. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Rutschung aber stark beschleunigt: Aktuell beträgt die Bewegung rund einen Meter pro Jahr. In den letzten Jahren kam die enorme Bergsturzgefahr von oben dazu.
Brienz liegt auf einer Sonnenterrasse an der Verbindungsstrasse von Lenzerheide nach Davos auf einer Höhe von rund 1150 Metern. Es hat knapp 100 Einwohner und in der Saison bis zu 200 Feriengäste. (dab/sda)
Irgendwann sind halt Risikogebiete nicht mehr bewohnbar, kosten/Nutzen sind dann auch mal überschritten.