Eigentlich ist die Schweiz ein «unmögliches» Gebilde. Auf einer relativ kleinen Fläche leben Menschen aus verschiedenen Sprach- und Kulturräumen friedlich miteinander in einem politischen System, das ihnen so viel Mitsprache ermöglicht wie in kaum einem anderen Land. Und das seit der Gründung des Bundesstaats vor genau 175 Jahren.
Nach der Niederlage der konservativen Kantone im kurzen und vergleichsweise unblutigen Sonderbundskrieg entwarf eine Kommission aus 23 Männern in nur 51 Tagen eine Verfassung, die am 12. September 1848 von der Tagsatzung angenommen wurde. Am nächsten Dienstag wird das Jubiläum im Bundeshaus mit einem Festakt gefeiert.
Die Schweiz war keine Vorreiterin, denn die erste moderne Verfassung im Geiste der Aufklärung in Europa entstand schon 1791 in Polen. Die Grossmächte reagierten heftig. Nur zwei Jahre später teilten Russland und Preussen das stolze Land unter sich auf. Ein solches Schicksal blieb der Schweiz erspart, obwohl auch sie den Monarchien ein Dorn im Auge war.
Sie hatte das immense Glück, dass 1848 die Menschen in vielen europäischen Ländern rebellierten und die Grossmächte mit sich selbst beschäftigt waren. Auch später wurde die Schweiz militärisch bedroht, doch mit Glück und Bauernschläue überstand sie alle Herausforderungen und konnte sich als erste stabile Demokratie in Europa behaupten.
Ohne Fehl und Tadel war sie nie. Schon die Verfassung von 1848 enthielt Defizite. Die Frauen waren von der Politik ausgeschlossen, und die Juden blieben Menschen zweiter Klasse. Während Ersteres kaum jemanden störte (eine Frauenrechtsbewegung entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts), geriet die Schweiz wegen der Diskriminierung der Juden unter Druck aus den USA und Frankreich, als sie mit diesen Ländern Handelsverträge abschliessen wollte.
Mit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 erhielten die Juden die volle Gleichberechtigung. Sie enthielt auch die direktdemokratischen Elemente, mit denen die Schweiz wurde, was sie heute ist. Bis zum Frauenstimmrecht aber dauerte es noch fast 100 Jahre, in denen sie zu einem peinlichen Schlusslicht unter den Demokratien wurde.
Dennoch grenzt es an ein Wunder, dass sich die Schweiz auf dem damaligen Fundament bis heute gehalten hat. Diese Stabilität hat aber eine Kehrseite. Die Schweiz tut sich schwer mit Reformen. Die späte Einführung des Frauenstimmrechts ist das prägnanteste Beispiel. Oft hat sie sich erst bewegt, nachdem sie vom Ausland unter Druck gesetzt wurde.
Im «globalisierten» 21. Jahrhundert scheint sich dies zu verstärken. Im Jubiläumsjahr des Bundesstaats sollte man deshalb drei Updates für die Schweizer Politik in Erwägung ziehen:
«27 % der Gemeinden in der Schweiz gewähren den Ausländern das Stimmrecht auf kommunaler Ebene.» Diesen Satz konnte man vor einigen Monaten auf Plakaten lesen. Er war Teil einer Kampagne des rechtsliberalen Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern unter dem Motto «Fakten statt Meinungen».
Faktisch stimmt die Behauptung, und dennoch grenzt sie an Meinungsmache. Denn diese Gemeinden liegen fast ausschliesslich in der Westschweiz. In Jura und Neuenburg können Ausländer sogar kantonal mitbestimmen. In der Deutschschweiz aber gewähren nur einige Gemeinden in Appenzell Ausserrhoden und Graubünden Ausländern das Stimmrecht.
Mehr noch: Wird in der Deutschschweiz über das Ausländerstimmrecht abgestimmt, ist die Abfuhr in der Regel massiv. Die Ausländer sollten sich eben einbürgern lassen, heisst es jeweils. Wobei dieses Argument aus jener politischen Ecke kommt, die sich oft schwertut mit der Erleichterung von Einbürgerungen oder sie gar erschweren will.
Die Unterschiede zwischen den Landesteilen sind nicht nur kulturell bedingt. Die Romands sind in diesem Land selber in der Minderheit und haben Verständnis für die Mitsprache der ausländischen Wohnbevölkerung, deren Anteil mehr als 25 Prozent beträgt. Wenn sie Steuern zahlen muss, sollte sie zumindest auf kommunaler Ebene mitentscheiden dürfen.
Vor 30 Jahren interviewte ich als junger Journalist den Aargauer CVP-Ständerat Hans Jörg Huber in seinem Büro. Er zeigte mir die Papierberge, die er aus Bern zugeschickt erhielt, und das jeden Tag. Heute kann man sie elektronisch zustellen, doch der Aufwand hat nicht abgenommen. Phänomene wie Cyberkriminalität haben die Welt komplexer gemacht.
Faktisch sind immer mehr National- und Ständeräte Berufspolitiker. Die Schweiz aber klammert sich an den Mythos des Milizparlaments. Vor allem die SVP verteidigt ihn verbissen. In der Realität läuft er nicht selten auf bezahlte Mandate hinaus, mit denen Parlamentarier in eine heikle Doppelrolle als Gesetzgeber und Lobbyisten geraten.
Ehrlicher wäre es, die Parlamentsarbeit als vollwertigen Beruf anzuerkennen, mit Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung im Fall einer Abwahl und mit einer Pensionskasse. Heute bekommen sie dafür 14'000 Franken pro Jahr, müssen sich aber selber versichern. Und für die Beschäftigung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters gibt es 33'000 Franken.
Für eine substanzielle Unterstützung reicht dies kaum. Viele Parlamentarier wünschen sich eine vom Bund bezahlte Assistenzstelle, damit die Schweizer Volksvertretung mehr ist als ein «Abnickerparlament», wie es eine namentlich nicht genannte GLP-Nationalrätin gegenüber Tamedia bezeichnete. Eine gute Gesetzgebung sollte uns dies wert sein.
Die Schweizer Regierung mit nur sieben Mitgliedern ohne permanenten Vorsitz ist ein Unikum. Inspiriert wurde sie durch das Direktorium der Französischen Revolution, das nach Robespierres Schreckensherrschaft gebildet wurde. Was die Sache noch erstaunlicher macht, denn dieses Direktorium funktionierte mehr schlecht als recht.
Keine Zusammensetzung hielt länger als ein Jahr, sodass ein ehrgeiziger General namens Napoléon Bonaparte sich 1799 mühelos an die Macht putschen konnte. In der Schweiz aber hat der Bundesrat in dieser Form seit 1848 Bestand, weil es immer wieder gelang, relevante politische Kräfte einzubinden, wenn auch teilweise erst nach langer Wartezeit.
Kritik an dieser Regierungsform aber gab es schon im frühen Bundesstaat, schrieb der Berner Politologe Adrian Vatter in einem NZZ-Gastbeitrag. Tatsächlich funktioniert die Zusammenarbeit in dieser Mehrparteien-Regierung ohne klare parlamentarische Mehrheit oftmals mehr schlecht als recht. Dann wird gerne über das berüchtigte «Silodenken» geklagt.
Eine Folge davon sind strategische Defizite. Man erlebt sie in der Europapolitik, die bis in den Bundesrat mehr durch Wunschdenken als Realitätssinn geprägt ist. Reformideen gab es durchaus, etwa eine Aufstockung auf neun Mitglieder oder eine Erweiterung durch Fachminister. Sie scheiterten nicht zuletzt am Bundesrat selbst. Wer gibt schon Macht ab?
Vereinzelt wird der radikale Systemwechsel zu einer parlamentarischen Demokratie ins Spiel gebracht, etwa von der Politologin Rahel Freiburghaus, die bei Adrian Vatter doktoriert hat. Er selber propagiert eine Listen- statt der Einzelwahl des Gesamtbundesrats. Dies würde Machtspielchen eindämmen, doch genau deshalb werden die Parteien kaum mitmachen.
Interessanter ist eine andere Idee von Vatter: die Schaffung eines Präsidialdepartements. Es würde die Arbeit des Bundesrats planen und koordinieren. Auch das strategische Denken könnte gestärkt und der Bundesrat «krisenfester» werden. Spricht man jedoch mit bundesratsnahen Personen über ein solches Präsidialdepartement, winken sie ab.
Bis 1920 übernahm der Bundespräsident gleichzeitig das damalige Politische Departement, aus dem das EDA hervorging. In der heutigen Politik ist ein solches «Departementshüpfen» kaum vorstellbar. Faktisch würde es auf eine feste Bundespräsidentin oder einen -präsidenten hinauslaufen, was dem Arbeitsklima im Siebnergremium kaum zuträglich wäre.
Doch es geht auch um die Aussenwirkung. Es sei nicht einfach, die Schweiz im Ausland zu erklären, sagte Staatssekretärin Livia Leu vor einem Jahr der NZZ: «Niemand versteht zum Beispiel, warum wir jedes Jahr einen anderen Präsidenten haben.» Es sagt einiges aus über unsere Nabelschau-Mentalität, dass dieser brisante Satz unbeachtet blieb.
Dabei bringt er das Problem auf den Punkt: Eine Regierungschefin oder ein Regierungschef würde der Schweiz ein «Gesicht» geben. Sie würde ernster genommen als heute, wo man oft das Gefühl hat, dass ausländische Staats- und Regierungschefs uns recht herablassend behandeln. Denn letztlich geht es in der Politik um Zuständigkeiten.
Die Chancen, dass einer der drei Punkte umgesetzt wird, stehen dennoch schlecht. Nach 175 vermeintlich erfolgreichen Jahren darf man die beharrenden Kräfte nicht unterschätzen. Gleichzeitig wird die Politik schnelllebiger und komplexer. Will die Schweiz den Anschluss nicht verlieren, sollte sie ihrem Bundesstaat die nötigen Updates verpassen.
Denn jeder der drei Punkte hat auch sachliche Argumente dagegen. Nein, nicht populistische, sachliche. Das ist kein Artikel sondern eher ein Meinungsblog.
Vermeintlich? Wieso bitte vermeintlich? Das waren nicht nur "vermeintlich" erfolgreiche Jahre.