Eine Volksabstimmung, bei der die Verlierer lautstark jubeln und die Sieger die Welt nicht mehr verstehen? Genau dies ereignete sich vor 30 Jahren. Am 26. November 1989 wurde die Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik» der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (Gsoa) abgelehnt. So weit, so normal.
Gar nicht normal war jedoch der Ja-Anteil von 35,6 Prozent. In Genf und Jura wurde die Abschaffung der Armee sogar angenommen. Zusätzlich legitimiert wurde das Ergebnis durch die überaus hohe Stimmbeteiligung von 69,2 Prozent. Für den früheren Zuger Nationalrat und Gsoa-Veteranen Jo Lang war es «die erfolgreichste Niederlage in der Geschichte der direkten Demokratie».
Tatsächlich feierte die Gsoa ihre Niederlage wie einen Sieg, während die Gegner der Initiative vor allem aus dem bürgerlichen Lager konsterniert waren. Für den Bündner SVP-Ständerat Ulrich Gadient, der das Nein-Komitee präsidierte, war der hohe Ja-Anteil «an der oberen Grenze des Erträglichen». Entsprechend fielen die Kommentare in den meisten Zeitungen aus.
Die gegensätzlichen Reaktionen von Verlierern und Siegern lassen sich nur erklären, wenn man sich das damalige politische und gesellschaftliche Klima vor Augen führt. Die Schweiz war in den 1980er Jahren geprägt vom Kalten Krieg und dem «bösen Feind» im Osten. Das Militär galt als unantastbar. «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee», lautete die Parole.
Wer den Militärdienst verweigerte, wanderte ins Gefängnis – unbedingt. Kritik an der Armee galt in bürgerlichen Kreisen als Landesverrat. Für die Gründung der Gsoa 1982 brauchte es deshalb einigen Mut, und erst recht für die Lancierung der Armeeabschaffungs-Initiative. Es kam zu Schikanen und Behinderungen beim Unterschriftensammeln und Beglaubigen.
Es war deshalb «ein kleines Polit-Wunder», dass die Initiative überhaupt zustande kam, wie Jo Lang damals schrieb. Der Basler Journalist Roman Brodmann drehte darüber den Dokfilm «Der Traum vom Schlachten der heiligsten Kuh». Seine Ausstrahlung in der ARD sorgte in Bundesbern für rote Köpfe und eine verärgerte Stellungnahme von Verteidigungsminister Arnold Koller (CVP).
Dabei gab es längst Warnsignale, dass die Armee in der Bevölkerung nicht mehr so unbestritten war, wie die Bürgerlichen in ihrer Réduit-Mentalität glaubten. Immer mehr Männer drückten sich via Dienstuntauglichkeit vor dem Militär, und 1987 wurde die Rothenthurm-Initiative vom Stimmvolk völlig überraschend angenommen. Sie verhinderte den Bau eines Waffenplatzes in Schwyz.
Das «Wendejahr» 1989 und der Fall der Berliner Mauer knapp drei Wochen vor der Abstimmung trugen ebenfalls zum hohen Ja-Anteil der Gsoa-Initiative bei. Das allein aber erklärte nicht, warum im Oberwallis, einer tiefschwarzen CVP-Hochburg, mehr als 40 Prozent mit Ja votierten. Es war Ausdruck der Frustration über eine Armee, die gerade in Randregionen oft selbstherrlich auftrat.
Die VOX-Analyse des Instituts GFS bestätigte, dass «nur» etwa 20 Prozent die Armee tatsächlich abschaffen wollten. Der Rest entfiel auf solche Denkzettel-Stimmen. Wirklich verblüffend aber war ein weiterer Befund: Die jungen Männer im so genannten «Auszugsalter» von 20 bis 32 Jahren, die das Rückgrat der Truppe bildeten, votierten mit nicht weniger als 72 Prozent für die Initiative.
Dieser Befund zeigte, wie verknöchert die Armee war und wie weit sich die Lebensrealität der damaligen jungen Menschen von ihr entfernt hatte. Der Spruch «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee» war als grosse Selbsttäuschung der «Kalten Krieger» entlarvt worden. Nach der Abstimmung verschwand er praktisch über Nacht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch.
Genau so kam es. Die Armee musste auf das Ergebnis der Abstimmung und den Zeitgeist nach dem Ende des Kalten Kriegs reagieren. In mehreren Reformschritten wurde der Bestand von 800'000 auf etwa 140'000 Soldaten reduziert. Eine der absurdesten Schikanen, der Streit um die korrekte Haarlänge, wurde 1992 durch die Zulassung von Haarnetzen entschärft.
Der Wandel in der Bevölkerung zeigte sich auch in der Einstellung gegenüber dem Zivildienst. 1984 war eine Volksinitiative für dessen Einführung mit 63 Prozent Nein abgeschmettert wurde. Nur acht Jahre später wurde ein entsprechender Verfassungsartikel mit fast 83 Prozent Ja wuchtig angenommen. Damit entspannte sich auch das Verhältnis zwischen Volk und Armee.
«Wir haben die Armee nicht abgeschafft, sondern säkularisiert», lautet Jo Langs Fazit 30 Jahre nach der denkwürdigen Abstimmung, bei der die «heiligste Kuh» der Schweiz entzaubert wurde Obwohl die Akzeptanz der Armee in den heutigen unsicheren Zeiten wieder hoch ist, kann sie sich nicht mehr alles erlauben. Das zeigte etwa das Nein zum Kampfjet Gripen vor fünf Jahren.
Oder interpretier ich da nun etwas falsch? 🧐