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Homosexualität

SVP-Nationalrätin will «schändliche Broschüre» verbieten

Analverkehr und Transsexualität: SVP-Nationalrätin will «schändliche Broschüre» verbieten

Die Broschüre der Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz richtet sich an 12- bis 18-Jährige und klärt über Lecktücher und Sexspielzeuge auf. Das sei nicht altersgerecht, moniert der Verein Schutzinitiative und fordert, das 60-seitige Werk in den Schulen zu verbieten.
24.06.2022, 08:49
Kari Kälin / ch media
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Bild: Shutterstock

Für die NZZ liest sie sich wie eine «Anleitung zum Porno». Bald muss sich der Bundesrat äussern zur Aufklärungsbroschüre «Hey You» der Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz; die Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog verlangt Auskunft. Jetzt geht die Kontroverse, über die zuerst «20 Minuten» berichtete, in die nächste Runde: Der Verein Schutzinitiative – Herzog ist Vorstandsmitglied – fordert die Kantone in einem Brief auf, die «schändliche» Broschüre an den Volksschulen zu verbieten. Gerichtet ist das Schreiben an alle Erziehungsdirektorinnen und -direktoren sowie an die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK).

Was ist ein Lecktuch? «Hey You» beantwortet diese Frage.
Was ist ein Lecktuch? «Hey You» beantwortet diese Frage.

Stein des Anstosses ist ein 60-seitiges Werk, das sich an 12- bis 18-Jährige richtet und Lehrpersonen beim Sexualunterricht unterstützen soll. Die Broschüre enthalte viele wertvolle Angaben über «Sex, Verhütung und mehr», heisst es im Eigenbeschrieb. Herzog kritisiert, die Themen Analverkehr, Homo- und Transsexualität beanspruchten auffällig viel Raum. Der Verein Schutz­initiative moniert im Schreiben an die Bildungsverantwortlichen, es werde die Sexwelt von Erwachsenen auf Minderjährige projiziert. Das entspreche nicht deren Lebenswelt.

Zu viel Information? Auszug aus der Broschüre «Hey You».
Zu viel Information? Auszug aus der Broschüre «Hey You».

Tatsächlich werden Primarschüler ins Universum der Sexspielzeuge eingeführt. So gebe es neben dem Dildo noch viele andere «Toys wie Vibratoren, Anal Plugs usw.», steht in der Broschüre. Unter dem Stichwort Safer Sex erfahren die Kinder, dass ein Lecktuch ein Latextuch ist, «das beim oralen Sex über den Vaginal- oder Analeingang gelegt wird».

Sexualforscher Jakob Pastötter.
Sexualforscher Jakob Pastötter.

Was ist davon zu halten? Notwendige Aufklärung oder eine Überforderung von Minderjährigen? Jakob Pastötter ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Der international tätige Forscher sagt auf Anfrage von CH Media. «Wer glaubt, gleichzeitig 12- bis 18-Jährige ansprechen zu können, besitzt nicht einmal ein rudimentäres Verständnis für die Entwicklungspsychologie der Altersstufen.» Es handle sich um eine nicht altersgerechte Sexualaufklärung mit der Brechstange. Die Sprache sei überausführlich und komme auf eine Weise daher, welche die meisten Kinder und Jugendlichen abschrecke.

Stiftung weist Kritik zurück

Kinder und Erwachsene hätten das Recht, nicht ungefragt mit sexuellen Praktiken konfrontiert zu werden, für die sie noch keine Vorstellung hätten, sagt Pastötter. Der schwerwiegendste Vorwurf: Die kommunikative Methode sei dem Grooming entlehnt, «also dem Heranziehen von Kindern zur sexuellen Ausbeutung».

Die Broschüre «Hey You» wurde im Herbst 2021 veröffentlicht und mit Fachpersonen aus der sexualpädagogischen Praxis entwickelt. Bisher wurden gut 38'000 Exemplare bestellt. Das entspricht bei einer angenommenen Klassengrösse von 22 Schülerinnen und Schülern rund 1500 Klassen, wie Barbara Berger sagt. Die Geschäftsleiterin von Sexuelle Gesundheit Schweiz weist die Kritik zurück. Ganzheitliche Sexualaufklärung beschränke sich nicht nur auf die Vermittlung von Informationen über die Fortpflanzung: «Sie fördert auch eine kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen und zeigt vielfältige Beziehungsformen auf.» Eine Lehrperson von Sechstklässlern habe berichtet, ihre Schüler würden die Broschüre mit vollem Eifer, grossem Interesse und unter viel Gekicher lesen, erzählt Berger.

Den Vorwurf des «Grooming» weist Berger «mit aller Entschiedenheit» zurück: «Es ist erwiesen, dass Kinder und Jugendliche, die seit früher Kindheit Zugang zu ganzheitlicher Sexualaufklärung haben, besser vor Übergriffen geschützt sind.» Bei der Verwendung von Lecktüchern, aber auch Anal Plugs oder Dildos gelte es, sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten zu schützen. Berger bezeichnet Jakob Pastötter als Referenz für eine wertkonservative Lobby in Europa, die ganzheitliche Aufklärung mit Schlagworten wie «Sexualisierung von Kindern» bekämpfe. Pastötter wiederum kontert, die «selbstgestrickten Sexualaufklärer» hätten jedes Gefühl für die Altersgruppe verloren.

Verena Herzog stört sich derweil daran, dass der Bund die Stiftung Sexuelle Gesundheit jährlich mit rund 800'000 Franken unterstützt. Aufmerksam gemacht auf «Hey you» hat sie eine Mutter aus dem Rheintal. Sie sei empört gewesen, dass die «überbordende» Broschüre in der Klasse ihrer 14-jährigen Tochter verteilt worden sei. Die Familie habe sich bei den Lehrkräften beschwert. Herzog sagt, die Broschüre enthalte viele sinnvolle Angaben. Aber einiges sei für diese Altersstufe völlig deplatziert.

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438 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Pi ist genau Drei!
24.06.2022 08:57registriert Februar 2017
Wie werden die wohl reagieren wenn sie erfahren dass man mit dem smartphone zugriff auf sogar noch expliziteres material hat und das völlig ohne altersbeschränkung.
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Lil Buoy aka Yung Speedo
24.06.2022 09:05registriert März 2020
Kommt immer gut, wenn irgendwelche weltfremdem ü60-er der Jugend erklären wollen, was geht, und was nicht. Wiedermal einer der Fälle, wo die SVP mental 40 Jahre hinterherhinkt, und in Zukunft lieber Milliarden für Teenieschwangerschaften ausgibt, als mitzuhelfen, diese über Aufklärung zu verhindern. Getreu dem SVP-Motto "Probleme von Heute mit Lösungen von gestern bekämpfen".
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infomann
24.06.2022 08:59registriert Juni 2015
Peinlich diese Spiesbürger.
Wir werden immer mehr wie die Amerikaner, sowas von verklemmt.
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