Im Genfer Quartier Pâquis ist ein einzigartiger Zufluchtsort für junge Homosexuelle, Bisexuelle und Transgender eröffnet worden, die von ihren Familien zurückgewiesen wurden. Bereits wohnen die ersten Betroffenen in einer Wohngemeinschaft mitten in der Rhonestadt.
«Wir beherbergen seit einigen Wochen zwei 19-Jährige», sagte Alexia Scappaticci, Koordinatorin des «Refuge Genève». Sie teilen sich eine Wohnung von ungefähr 60 Quadratmetern, die von der Vereinigung Dialogai gemietet wurde, welche auch das Refuge betreibt.
In der Wohnung mit dreieinhalb Zimmern mit Küche finden diese beiden jungen Menschen Zeit, um sich wieder zu finden. Der Aufenthalt von drei Monaten kann ein einziges Mal verlängert werden.
Beide teilen einen schwierigen Lebenslauf und das Trauma einer Rückweisung ihrer Familien wegen ihrer Homosexualität. «Wenn man von seiner Familie verstossen wird, ist es schwierig, sich neu zu gliedern», sagt Koordinatorin Scappaticci.
Sie versucht nur eine Mediation mit den Familien, wenn dies von den jungen Erwachsenen gewünscht wird. In den aktuellen beiden Fällen herrsche zu viel Wut, um den Dialog zu suchen, erklärt sie.
Vielmehr unterstützt sie die jungen Menschen und knüpft Kontakt mit den verschiedenen Ansprechpersonen auf psychologischer, sozialer und beruflicher Ebene. Das Ziel sei, die Betroffenen in die Unabhängigkeit zu führen, sagt Scappaticci. Beide werden zum Schulanfang Ausbildungen in Angriff nehmen.
Bis dahin gelten in der Wohngemeinschaft in Genf strenge Regeln. Ohne Voranmeldung bei der Koordinatorin dürfen keine Gäste empfangen werden. Die Bewohner müssen zudem 10 Prozent ihrer Einnahmen – bei den beiden aktuellen Personen bedeutet dies Sozialhilfe – abgeben.
Zudem müssen sie beim Haushalt mit anpacken, was für 19-Jährige nicht selbstverständlich sei, schmunzelt die Koordinatorin. Wenn sich hin und wieder das Geschirr in der Spüle stapelt, muss Scappaticci durchgreifen.
Das Refuge in Genf richtet sich an Personen zwischen 18 und 25 Jahren. Seit der Eröffnung suchten drei Personen notfallmässig Zuflucht. Eine von ihnen fand schliesslich eine Lösung im eigenen Umfeld.
Wegen der Nachfrage soll demnächst eine zweite Wohnung zur Verfügung stehen. Falls das nicht ausreiche, werden Übernachtungen in Hotels organisiert, wie Fabien Bertrand, Mediensprecher von Dialogai sagt.
Obwohl für die Aufnahme Kriterien festgelegt wurden, gebe es je nach Fall einen gewissen Spielraum. Junge Homosexuelle, die auf die Strasse gesetzt würden, hätten aber stets Vorrang, sagt Bertrand.
Die Vereinigung will aber wenn immer möglich verhindern, dass als letzter Ausweg Zuflucht gesucht werden muss. Von Dienstag bis Freitag bietet sie deshalb Beratungen zur sexuellen Ausrichtung oder dem Geschlecht an.
Rund ein Dutzend junger Personen haben das Angebot bereits genutzt. Die Kosten für das Refuge belaufen sich auf 250'000 Franken pro Jahr, wovon 48 Prozent von Privaten und 30 Prozent durch Subventionen sichergestellt sind. Den Rest übernimmt Dialogai.
Nach zwei Jahren soll eine Bilanz zum Pilotprojekt gezogen werden. Die Initianten haben sich am Vorbild aus Frankreich orientiert. Dort ging das erste Refuge 2003 in Montpellier auf.
Wegen der starken Nachfrage gibt es heute ähnliche Institutionen in allen grossen französischen Städten. Auch in Annecy und Grenoble im grenznahen Frankreich sind Refuges geplant. «Leider sind die Refuges Opfer ihres Erfolges», bedauert Fabien Bertrand. (wst/sda)