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Ignazio Cassis im Interview nach Ukraine-Besuch

HANDOUT - Bundespraesident Ignazio Cassis, links, beim Handshake mit dem ukrainischen Praesidenten Wolodymyr Selenskyj, am Donnerstag, 20. Oktober 2022 in Kiew, Ukraine. Cassis ist am Donnerstag ueber ...
Bundespräsident Ignazio Cassis traf bei seinem Besuch auch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Bild: EDA/Pascal Lauener
Interview

«Emotional hat mich noch nichts so sehr berührt wie dieser Besuch»

Nach langem Zögern hat Bundespräsident Cassis die Ukraine besucht. Im Gespräch schildert er seine Eindrücke und sagt, wie die Schweiz den Kriegsopfern im Winter helfen will. Zudem stellt er sich den Fragen zu seiner erfolglosen Europapolitik – für die er neue Chancen sieht.
29.10.2022, 11:40
Stefan Bühler / ch media
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Sie waren letzte Woche für einen Tag in Kiew. Welcher war für Sie der eindrücklichste Moment?
Ignazio Cassis:
Meine Besuche in zwei Ortschaften nördlich von Kiew haben mir das Mass der Zerstörung und das Leiden der Menschen vor Augen geführt, das richtiggehend spürbar wurde. Das war sehr eindrücklich.

Was haben Sie dort gesehen?
In einem Quartier in Borodjanka, das fast vollständig durch Artilleriebeschuss zerstört worden ist, habe ich mit einer Gruppe von Damen gesprochen. Sie frieren zu Hause, weil sie keine Fenster mehr haben. Und die lokalen Behörden können nicht helfen, weil ihnen die Ressourcen und das nötige Material fehlen. An einem anderen Ort habe ich eine Mutter mit drei kleinen Kindern getroffen, die in einem Holzhaus wohnen, das von einer Ostschweizer Firma fertiggestellt worden ist. Diese Familie schätzt sich im Vergleich zu vielen anderen glücklich: Sie hat immerhin ein Haus, das sie vor der Kälte schützt.

Haben Sie schon einmal eine vergleichbare Situation angetroffen wie nun in Kiew?
Nein, so viel Zerstörung, so viel Leid an einem Ort habe ich noch nie erlebt. Ich war im Irak oder im Libanon. Das war auch sehr bedrückend. Aber emotional hat mich noch nichts so sehr berührt wie nun dieser Besuch in der Ukraine.

Wie kann die Schweiz den Kriegsopfern rasch helfen?
Die Bedürfnisse, um den Winter zu überstehen, sind immens. Es mangelt an vielem: an Geld, an Handwerkern und an Material, das benötigt wird für die Reparatur des von den Russen gezielt zerstörten Stromnetzes. Die Schweiz kann gerade im Bereich der Infrastruktur dank des Know-how unserer Unternehmen konkrete Hilfe leisten. Im Moment läuft zudem eine weitere Lieferung von Schweizer Hilfsgütern mit Material zur Brandbekämpfung und Trümmerräumung.

HANDOUT - Bundespraesident Ignazio Cassis steht an einem Denkmal fuer tote Ukrainer, am Donnerstag, 20. Oktober 2022 in Kiew, Ukraine. Cassis ist am Donnerstag ueberraschend in die Ukraine gereist. (E ...
Bundespräsident Cassis am Denkmal für die getöteten Ukrainer.Bild: EDA/Pascal Lauener

Können Sie sagen, wer hier mitmacht?
Nein, dafür ist es zu früh. Wir arbeiten unter Hochdruck an Hilfe im Energiesektor und der Schaffung von Unterkünften. Wir haben unsere Unterstützung der Ukraine in diesem Jahr mehr als verdoppelt. Auch die rund 130 Millionen Franken der Glückskette sind hilfreich.

Als im Sommer andere Staatschefs schon lange nach Kiew gereist waren, blieben Sie in der Schweiz. Es gebe keinen Grund zu reisen, sagten Sie damals. Nun, da Kiew wieder stärker unter Beschuss steht und die Lage deutlich unsicherer ist, reisten Sie. Warum gerade jetzt?
Der Besuch war notwendig. Es ging darum abzuklären: Wo stehen wir? Welches sind die Bedürfnisse? Wie kann die Schweiz helfen? Im Juli hatten wir eine grosse Delegation der Ukraine an der Wiederaufbaukonferenz in Lugano. Wir haben damals gemeinsam vieles in die Wege geleitet. Nun bestand ein klares Bedürfnis nach einem persönlichen Kontakt, um den weiteren Weg zu besprechen. Und es war wichtig, dies vor der Konferenz zum Wiederaufbau in Berlin zu tun. Mit dem Besuch wollte ich auch ein Zeichen der Solidarität setzen zu einem Zeitpunkt, wo Kiew wieder mit Raketen angegriffen wird. Präsident Selenski und Premierminister Schmyhal haben es sehr geschätzt, dass ich ihre Einladung vom Juli wahrgenommen habe.

«Mit dem Besuch wollte ich auch ein Zeichen der Solidarität setzen zu einem Zeitpunkt, wo Kiew wieder mit Raketen angegriffen wird.»
Bundespräsident Cassis

Haben die beiden Forderungen an die Schweiz gestellt?
Forderungen ist das falsche Wort. Ich habe konkret gefragt, wie wir am besten unterstützen können. Und da gibt es vieles: Die Finanzierung des Wiederaufbaus ist ein grosses Thema, aber auch schnelle Hilfe im Hinblick auf den kommenden Winter. Es gilt jetzt schnell, wirksam und koordiniert zu handeln.

Geht es dem Bund nicht einfach darum, zu verhindern, dass noch mehr Menschen aus der Ukraine nach Westeuropa und auch in die Schweiz flüchten?
Hilfe vor Ort ist das grosse Stichwort. Selbstverständlich sorgen wir weiterhin für die Flüchtlinge in der Schweiz. Aber die Botschaft der Regierung in Kiew ist deutlich: «Wir wollen, dass unsere Leute zurückkehren, wir brauchen sie für den Wiederaufbau.» Es gibt also ein beidseitiges Interesse, dass die Leute vor Ort die Möglichkeit haben, den Winter zu überstehen.

Am Dienstag reisten Sie dann nach Berlin an die Wiederaufbaukonferenz der G7 und der EU. Sie standen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Was bedeutet Ihnen diese Einladung?
Sie bedeutet, dass wir in Lugano den ersten Schritt getan haben auf einem langwierigen Weg des Wiederaufbauprozesses, der nicht warten kann, bis der Krieg zu Ende ist. Der Wiederaufbau ist die grösste Hoffnung, die wir den Menschen in der Ukraine geben können, er liefert eine Perspektive. Dafür müssen wir jetzt handeln: Bis Ende Jahr sollte die Plattform definiert werden, um die unmittelbare Hilfe für diesen Winter, aber auch die Finanzierung des Wiederaufbaus zu koordinieren und in die Tat umzusetzen. Es ist eine riesige Aufgabe: Damit die ukrainischen Behörden überhaupt weiter funktionieren können, sind Milliardenbeträge pro Monat nötig.

Wie viel zahlt die Schweiz?
Diese Frage ist verfrüht. Jetzt geht es darum, Zuständigkeiten zu definieren, damit sich die internationale Gemeinschaft organisieren kann.

Ist es nicht so, dass mit der G7-Konferenz in Berlin die grossen Mächte das Ruder übernehmen und die Schweiz ins zweite Glied zurücktritt?
Die Schweiz hat gemeinsam mit der Ukraine in Lugano den Startschuss gegeben. Die Prinzipien von Lugano bildeten in Berlin den Rahmen für den Wiederaufbauprozess. Wenn die Konferenz in Berlin etwas gezeigt hat, dann, dass auch ein einzelnes Land, und sei es so gross wie etwa Deutschland, nicht in der Lage sein wird, diesen Prozess allein zu steuern.

«Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, in der die Schweiz ihre Rolle spielen und Nischenfunktionen übernehmen kann.»

Mit Ihrem Auftritt gesellt sich die Schweiz zu jenem Kreis westlicher Mächte, die die Ukraine auch militärisch unterstützen. Wie verträgt sich das mit der Schweizer Neutralität?
Gut, solange man klar sagt, dass die Schweiz keine Waffen liefern oder Truppen stellen kann. Unsere Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Es gibt genug andere Aufgaben, die wir übernehmen können, zum Beispiel in der Nothilfe, der Diplomatie, aber auch bei der demokratischen Entwicklung und den Reformen der Ukraine, wo sich die Schweiz bereits seit Jahren stark engagiert.

Trotzdem: Wladimir Putin und US-Präsident Biden haben beide gesagt, die Schweiz ist nicht mehr neutral. Auch Präsident Selenski hat die Neutralität in Frage gestellt. Nur der Bundesrat sagt etwas anderes. Wäre es nicht ehrlicher zu sagen, die Schweiz kann bei einer so krassen Verletzung von Völkerrecht und Menschenrechten, wie sie Russland begeht, gar nicht neutral bleiben?
Nein, wir sind und bleiben neutral. Wir beteiligen uns weder mit Truppen noch mit Waffen am Krieg. Aber wir stehen ein für Freiheit, Demokratie und unsere Werte. Und das ist mit unserer Neutralität absolut vereinbar.

Sie haben im Sommer den Begriff der kooperativen Neutralität ins Spiel gebracht. Der Bundesrat hält nun aber an der Auslegung der Neutralität fest, wie sie seit 1993 gilt. Was hätte die kooperative Neutralität Neues gebracht?
Mit der kooperativen Neutralität hätte die Schweiz das Neutralitätsrecht weiterhin vollumfänglich beachtet, es aber noch stärker zu Gunsten der aussen- und sicherheitspolitischen Kooperation mit Partnerstaaten ausgelegt. Dies hätte auch gesetzliche Anpassungen mit sich gebracht. So hätte zum Beispiel bei Partnerstaaten auf Nichtwiederausfuhr-Erklärungen bei Kriegsmaterialexporten verzichtet werden können.

Swiss President Ignazio Cassis delivers his speech during the International Expert Conference on the Recovery, Reconstruction and Modernisation of Ukraine, in Berlin, Germany, Tuesday, Oct. 25, 2022.  ...
Cassis reiste nach dem Ukraine-Besuch nach Berlin.Bild: keystone

Sie haben an der Konferenz EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen getroffen. Kamen die Beziehungen Schweiz-EU dabei auch zur Sprache?
Ja, ich habe sie getroffen, und wir hatten ein Gespräch über den Stand der Sondierungsgespräche und die technischen Diskussionen.

Was hat herausgeschaut?
Dass ein Verhandlungsmandat dann in Frage kommt, wenn es reelle Chancen gibt, Lösungen für jene Knackpunkte zu finden, die den Bundesrat veranlassten, die Verhandlungen über das Rahmenabkommen zu beenden. Daran arbeiten wir jetzt intensiv in den Sondierungen und in den technischen Gesprächen. Vor allem bei den Fragen zur Personenfreizügigkeit gibt es im Moment noch Differenzen.

Sie haben das EU-Dossier bei Ihrer Wahl in den Bundesrat übernommen, es aber seither keinen Schritt weitergebracht. Ausser Reorganisationen im Organigramm des Bundes tut sich nichts. Wann geht es endlich weiter?
Der Bundesrat hat im Mai 2021 entschieden, das Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen, weil bei zentralen Themen wie dem Lohnschutz und der Personenfreizügigkeit zu grosse Differenzen bestanden. Nun arbeiten wir daran, einen kleineren Schritt zu machen in Richtung unseres wichtigsten Wirtschaftspartners, mit dem wir auch eine Wertegemeinschaft bilden.

Karten mit Unterschrift von Bundespraesident Ignazio Cassis, und Bundesraetin Karin Keller-Sutter, an der Delegiertenversammlung der FDP Die Liberalen Schweiz, am Samstag, 22. Oktober 2022 in Burgdorf ...
Zurück in der Schweiz, ging es bei Cassis wieder um Innenpolitik: Am Samstag traf sich seine Partei zur Delegiertenversammlung.Bild: keystone

Werden Sie nach der Ersatzwahl für Ueli Maurer im Dezember, wenn sich die Gelegenheit für einen Departementswechsel bietet, das Aussendepartement verlassen?
Dass ich mich im EU-Dossier so stark engagiere, zeigt, dass ich den Ehrgeiz habe, eine Lösung zu finden. Die Frage der Departementsverteilung wird nach der Ersatzwahl von Ueli Maurer im Bundesrat geführt.

Im Inland steigt die Ungeduld: Zuletzt begaben sich verschiedene Delegationen aus dem Parlament, den Parteien und Kantonen nach Brüssel, wo sie Ihren Verhandlungspartner, EU-Kommissar Sefcovic, trafen. Was halten Sie von dieser Paralleldiplomatie?
Ich stelle fest, dass auch diese Bemühungen bisher zu keinem Ergebnis geführt haben. Die Delegationen sehen auch, dass es noch Differenzen gibt mit Brüssel. Die Situation ist unbefriedigend. Wir wären alle froh, einen Durchbruch zu erzielen.

Wir stehen wegen der Energiekrise vor einem ungewissen Winter und sind mangels Energieabkommen in Europa isoliert. Wird die Energiekrise die Schweiz zu Kompromissen gegenüber der EU zwingen?
Ich glaube nicht. Falls es zu einer Einigung mit der EU kommt, dann ist es nicht wegen der Energiekrise. Aber selbstverständlich spielt der Krieg in der Ukraine eine Rolle. Mittelfristig sind wir mit einem riesigen sicherheitspolitischen Problem in Europa konfrontiert: Die bewährte Sicherheitsarchitektur, die auf der Schlussakte von Helsinki von 1975 zur Schaffung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der OSZE, beruhte, wird in Frage gestellt. Wir müssen unsere Position finden. Es geht um die Sicherheit des Landes, um die Freiheit und Rechte unserer Bevölkerung.

Wissen Sie, wie diese Position der Schweiz aussehen könnte?
Nein, weil wir noch nicht wissen, wie die europäische Position aussehen wird. Kürzlich hat die EU all jene europäischen Staaten nach Prag eingeladen, die nicht Mitglied in der Union sind. Es zeigte sich, dass diese sogenannte neue Europäische Politische Gemeinschaft in der gegenwärtigen Phase ihren Wirtschaftsraum schützen und gemeinsam wettbewerbsfähig sein muss. Es geht um die Frage: Wie stärken wir den europäischen Kontinent?

Die Abhängigkeit von russischem Gas hat sich als fatal erwiesen. Noch viel grössere Abhängigkeiten gibt es von China, wo sich Xi Jinping faktisch als Alleinherrscher etabliert hat. Heisst weniger Russland und weniger China nicht automatisch: noch mehr Europa?
Ja, bis zu einem gewissen Grad ist das die natürliche Konsequenz des aktuellen Kriegsgeschehens. Wir sind eine Wertegemeinschaft. Aber mehr Europa heisst nicht einfach mehr EU, sondern eine Diskussion mit allen europäischen Ländern. Wir müssen mit unseren Nachbarn eine Gemeinschaft bilden, die so stark wie möglich ist, damit wir weltweit konkurrenzfähig und sicherheitsmässig auch geschützt sind. Auch die Beziehungen der Schweiz zur EU sind unter dieser neuen Ausgangslage zu betrachten: Sie ist nicht einfacher, aber sie eröffnet auch Chancen. (bzbasel.ch)

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58 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Yupidu
29.10.2022 12:19registriert März 2020
Noch einmal, wie kann die neutrale Schweiz Waffen nach SA (Krieg mit Jemen) problemlos liefern aber Lieferung von Munitionen via DE an die UA verweigern????
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banda69
29.10.2022 12:24registriert Januar 2020
"Aber wir stehen ein für Freiheit, Demokratie und unsere Werte. Und das ist mit unserer Neutralität absolut vereinbar."

Genau so ist es. Auch wenn die Putinversteher von der SVP lauthals was anderes behaupten.
10333
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selce
29.10.2022 12:30registriert August 2021
«Emotional hat mich noch nichts so sehr berührt wie dieser Besuch»
… und das bringt den Ukrainer:innen was genau…?
So Stichwort Waffenweitergabe der Deutschen erlauben. Man könnte schon was machen, wenn man denn wollen würde!
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