Seine Antworten drückten Ratlosigkeit aus. «Der Bundesrat würde sehr gerne bessere Beziehungen zur EU haben», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis in der «NZZ am Sonntag». Und: «Die Frage ist bloss wie?» Es sei fast ein Ding der Unmöglichkeit, sich in der Schweiz auf eine Verhandlungsposition zu einigen. Und wenn doch, müsste auch noch die EU einverstanden sein.
Mit Brüssel läuft trotz drei Besuchen von Staatssekretärin Livia Leu so gut wie nichts. Und innenpolitisch steht alles still.
Zwar war der Lohnschutz am Rande von individuellen Treffen der Sozialpartner mit den Bundesräten Guy Parmelin und Karin Keller-Sutter ein Thema. Doch seit Februar finden offiziell keine Gespräche zwischen den Sozialpartnern mehr statt.
Die Gewerkschaften sehen die Schuld beim Bundesrat. «Wir wären im Februar gesprächsbereit gewesen», sagt Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes Travail Suisse. Damals hatten die Sozialpartner ihre Arbeit zu den Rechtsunterschieden zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen.
Der Plan sah vor, dass sie danach über einen innenpolitisch autonomen und EU-kompatiblen Umbau der Lohnschutzmassnahmen diskutiert hätten. Wüthrich: «Das wäre der richtige Weg gewesen.»
Der Bundesrat wählte aber den Weg über Sondierungsgespräche mit Brüssel. «Deshalb ist unsere Skepsis gross», sagt Wüthrich. «Der Weg des Bundesrats läuft auf ein Insta 2.0 heraus.» Das sei für die Gewerkschaften nicht akzeptabel.
Gewerkschaften wie Arbeitgeber schieben sich den schwarzen Peter für die Blockade aber auch gegenseitig zu. «Wir haben zurzeit gar keinen Verhandlungspartner», sagt Arbeitgeber-Direktor Roland A. Müller. «Es braucht beiderseits einen Verhandlungswillen.»
Gewerkschaftsvertreter wie Wüthrich hingegen sagen: «Die Arbeitgeber haben gemauert und waren nicht bereit, über einen Ausbau des Lohnschutzes zu reden.» Es brauche aber Verbesserungen beim Lohnschutz, um das Niveau halten zu können, wenn gleich sieben Lohnschutz-Massnahmen jenen der EU angepasst werden müssten.
Erstaunlicherweise wären Gewerkschaften wie Arbeitgeber verhandlungsbereit. Das sagen beide. Die Arbeitgeber betonen, dass es dafür aber «einen klaren Auftrag des Bundesrats braucht», wie Müller sagt. «Wir müssen Eckwerte haben um zu wissen, in welche Richtung ein Lösungsansatz gehen muss.»
Die Arbeitgeber wollen Diskussionen vom Grundsatz her angehen, dass es «oberstes Gebot ist, das heutige Lohnschutzniveau zu halten», sagt Müller. «Darauf könnten wir aufbauen, um mit den Gewerkschaften über Massnahmen zu reden, mit denen wir den Lohnschutz sichern und die auch den EU-Regelungen entsprechen.»
Die Arbeitgeber können sich vorstellen, den Gewerkschaften bei der Unionsbürgerrichtlinie entgegenzukommen. «Wir müssen bereit sein, über die Übernahme gewisser Punkte zu diskutieren, solange sie einen Bezug zur Erwerbstätigkeit haben.» Möglich sei eine Übernahme etwa bei Studenten. Die Ausweisung von Straftätern müsse aber möglich bleiben.
Auch Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes, sagt: «Wir sind bereit, mit den Sozialpartnern zu verhandeln.» Er macht allerdings glasklare Bedingungen dafür: «Es braucht Konzessionen. Und es braucht einen autonomen Lohnschutz.»
Ein Entgegenkommen möchten sowohl SGB wie Travail Suisse im Bereich der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Beide Dachverbände verweisen auf die neue Mindestlohnrichtlinie der EU, welche die GAV fördert. «Für uns ist diese Richtlinie interessant», sagt Maillard. Die Gewerkschaften möchten den Abdeckungsgrad der Gesamtarbeitsverträge erhöhen.
Genau hier markieren die Arbeitgeber aber Härte. Nur Entsende- und Durchsetzungsrichtlinie seien Bestandteil der Verhandlungen um den Lohnschutz, betonen sie. Die Übernahme weiterer EU-Arbeitnehmer-Richtlinien sei kein Thema.
Die Arbeitgeber wollen den Ball trotzdem aufnehmen, den Wüthrich von Travail Suisse im «Blick» geworfen hat. Er sei bereit, über die 8-Tage-Regel für europäische Firmen zu reden, sagte er. Die Voranmeldefrist könne von 8 auf 5 Tage reduziert werden. Das Angebot signalisiere Bereitschaft, über Lohnschutz-Massnahmen zu diskutieren, sagt Müller. «Wir sollten sie nicht versanden lassen.»
Eine Befürchtung eint Arbeitgeber und Gewerkschaften. Beide vermuten, dass der Bundesrat im EU-Dossier nichts mehr tun will bis zu den Wahlen 2023. «Findet er bis September mit der EU keine Lösung zu Horizon Europe, ist der Zug abgefahren», sagt Müller. «Wir befürchten, dass der Bundesrat dann die Wahlen abwartet.» Wüthrich sagt: «Ich denke, dass es im EU-Dossier erst 2024 weitergeht.»
Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter sieht darin ein grosses Problem. «Es ist ganz dringend, dass wir eine Lösung finden», sagt sie. Sie sieht vor allem den Gesamtbundesrat in der Pflicht. Er müsse Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, «dass sich die Sozialpartner zu einer Lösung zusammenraufen».
Was sagt das Aussendepartement (EDA) dazu? Der Bundesrat habe im Februar beschlossen, Sondierungsgespräche mit der EU aufzunehmen, und parallel dazu Spielräume mit den wichtigen innenpolitischen Akteuren zu diskutieren, hält Sprecher Valentin Clivaz fest.
Der Bundesrat habe sich von Beginn an bemüht, einen Ausgleich zu schaffen zwischen internen und externen Positionen. «Andernfalls», betont Clivaz, «wäre die Schweiz mit zu eng gezogenen roten Linien in die Sondierungsgespräche mit der EU getreten.» (aargauerzeitung.ch)
Ich glaube im Moment hätte das eine gute Chance. Denn ich glaube vielen sind gute Beziehungen zur EU wichtiger als eine pseudo Unabhängigkeit, die eh nur auf dem Papier besteht.