Schweiz
Analyse

Streit mit der EU: Die Schweiz spielt mit dem Feuer

Der EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis, am Freitag, 4. September 2020 vor dem Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle) Petros Mavromichalis, Ambassador of the European Un ...
Petros Mavromichalis vor dem Bundeshaus: Der EU-Botschafter ärgert sich über die Schweiz.Bild: KEYSTONE
Analyse

Dicke Luft zwischen Bern und Brüssel: Die Schweiz spielt mit dem Feuer

Der Bundesrat hat vor einem Jahr das Rahmenabkommen mit der EU einseitig beerdigt. Ein Neustart erweist sich als schwierig. Gleichzeitig werden die Warnungen immer dringlicher.
17.06.2022, 06:0017.06.2022, 06:03
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Eine «reguläre» Sitzung des Bundesrats findet diese Woche nicht statt. Dennoch wird sich die Landesregierung am Freitag treffen. Vorgesehen ist eine Aussprache zur Europapolitik – einmal mehr, muss man anfügen. In den letzten Jahren hat der Bundesrat regelmässig solche Aussprachen oder «Klausuren» durchgeführt. Mit überschaubarem Ergebnis.

Im Mai letzten Jahres versuchte er eine Art Befreiungsschlag. Er fegte den ausgehandelten Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen (InstA) vom Tisch, ohne Rücksprache mit der Europäischen Union oder dem Parlament. Nicht wenige spendeten Applaus, doch nun zeigt sich, dass der Bundesrat sich in die Sackgasse manövriert hat.

Ein Neustart der Gespräche mit Brüssel erweist sich als harzig. Staatssekretärin Livia Leu führte zweimal «Sondierungsgespräche» mit ihrem Ansprechpartner Juraj Nociar, dem Kabinettschef des für die Schweiz zuständigen EU-Kommissars Maros Sefcovic. Ein neues Treffen des Slowaken mit Aussenminister Ignazio Cassis aber fand bislang nicht statt.

Ärger über Zeitschinden

Anfang Mai sandte die EU-Kommission einen Brief mit zehn Fragen zum künftigen Verhältnis nach Bern. In ihrer Antwort anerkannte Livia Leu grundsätzlich die Forderung nach einer Lösung der institutionellen Fragen. Das betrifft die Rechtsübernahme wie die Rolle des Europäischen Gerichtshofs. Inhaltlich aber vermied sie eine klare Positionierung.

Das mag angesichts der innenpolitischen Querschüsse nachvollziehbar sein. Auf Seiten der EU aber ist der Ärger über das helvetische «Zeitschinden» gross. In der SRF-«Rundschau» am Mittwoch sprach Petros Mavromichalis, der EU-Botschafter in Bern, auf undiplomatische Weise Klartext: «Irgendwann muss man sagen: Jetzt reicht es.»

Diametraler Widerspruch

Die EU habe sich in der Vergangenheit sehr bemüht, der Schweiz entgegenzukommen, etwa bei der Streitschlichtung, meinte der Grieche. Bundespräsident Cassis liess dies nicht auf sich sitzen. Er warf der EU im «Rundschau talk» vor, sie sei bislang «wenig flexibel» gewesen: «Wir erwarten, dass uns auch die EU mit etwas Pragmatismus entgegenkommt.»

Man könnte dies als Geplänkel abtun, doch inhaltlich widersprechen sich diese Wortmeldungen diametral. Zwischen Bern und Brüssel herrscht nicht Entspannung, sondern dicke Luft. Dabei zeigen sich die Nachteile für die Schweiz durch den einseitigen Entscheid des Bundesrats immer deutlicher, vor allem beim Forschungsprogramm Horizon Europe.

«Höchste Dringlichkeit»

Die EU hat die Schweiz zum «Drittstaat» herabgestuft. Sie hat keinen vollen Zugang mehr zu den Programmen, was der Forschungsstandort zu spüren bekommt. Die Vollassoziierung der Schweiz an Horizon Europe habe «höchste Dringlichkeit», heisst es in einem Schreiben des Regierungsrats von Basel-Stadt vom Mittwoch an den Bundesrat.

Christian Leumann, Rektor der Universität Bern, schilderte das Problem in der «Tagesschau» vom Montag. Wegen des fehlenden Horizon-Zugangs hätten Schweizer Hochschulen immer mehr Mühe, ausländisches Spitzenpersonal zu rekrutieren. Es sei auch zu Abgängen gekommen. Und bei Projekten müsse man den Lead an europäische Kollegen abtreten.

Frustrierte Europapolitiker

Mehrere Wirtschaftsverbände, darunter Economiesuisse und der Arbeitgeberverband, forderten Bundesrat und EU-Kommission am Mittwoch in einem «dringlichen Appell» zur raschen Wiederaufnahme der Verhandlungen auf. Neben Horizon Europe sorgt man sich vor allem um die Nicht-Anwendung des bilateralen Abkommens über technische Handelshemmnisse.

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Guy Parmelin redet das Horizon-Problem gerne klein.Bild: keystone

Frustriert äussern sich im Gespräch auch die wenigen verbliebenen Europapolitiker im Parlament. Sie ärgern sich über die Führungsschwäche von Ignazio Cassis, die zögerliche Haltung von Livia Leu oder über Guy Parmelin, der für Wirtschaft und Forschung zuständig ist, die Probleme in diesen Bereichen aber in SVP-Manier kleinredet und herunterspielt.

Versuchter Befreiungsschlag

Am Montag kam es im Nationalrat zum Versuch eines Befreiungsschlags. Die grosse Kammer forderte den Bundesrat gegen dessen Widerstand auf, mit der EU über einen raschen Anschluss an Horizon zu verhandeln. Dazu beitragen soll ein höherer Kohäsionsbeitrag. Die Zustimmung erfolgte jedoch ganz knapp mit Stichentscheid von Ratspräsidentin Irène Kälin (Grüne).

Was davon zu halten ist, schilderte der Brüssel-Korrespondent von «CH Media» mit deutlichen Worten: Der von Mitte-links eingereichte Vorstoss sei «ein Schuss in den Ofen». Die EU stecke das Geld aus Bern dankend ein, aber sie wolle «keine Almosen, sondern die Lösung der institutionellen Fragen». Management by Bundeskasse funktioniert in diesem Fall nicht.

Dilettanten gegen Profis

Der Kommentar verwendet für die Schweizer Europapolitik einen treffenden Begriff: Bastelei. Das ist fatal, denn während der Bundesrat aus lauter Angst vor innenpolitischem Gegenwind zaudert und das Parlament dilettiert, sitzen in Brüssel abgebrühte Profis, die genau wissen, was sie wollen. Und die Schwächen der Schweiz knallhart auszunutzen versuchen.

Ignazio Cassis und Maros Sefcovic
Im letzten November trafen sich Ignazio Cassis und Maros Sefcovic in Brüssel. Ein neuer Termin ist offen.Bild: twitter/ignaziocassis

So wird im Brief von Anfang Mai auch eine Modernisierung des Freihandelsabkommens von 1972 ins Spiel gebracht. Diese Vorstellung treibt selbst den EU-Freunden im Parlament den Angstschweiss auf die Stirn, denn in diesem Fall würde die Öffnung von geschützten Bereichen wie Landwirtschaft und Service Public zum Thema.

Am Ende steht das InstA 2.0

Welche Widerstände dies auslösen würde, kann man sich ausmalen. Staatssekretärin Leu weist dieses Ansinnen in ihrer Antwort denn auch zurück. Dennoch spielt die Schweiz mit dem Feuer, denn je länger sie zaudert, umso mehr wird der Leidensdruck zunehmen. Schon heute fürchtet die Maschinenindustrie um den ungehinderten EU-Marktzugang.

Dabei liegt die Lösung auf der Hand: Will die Schweiz am bilateralen Weg festhalten, führt kein Weg vorbei an einer Neuauflage des Rahmenabkommens – einem InstA 2.0, mit Zugeständnissen bei Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie. Denn die Vorstellung, dass die EU ausgerechnet die Personenfreizügigkeit ausklammert, gehört ins Reich der Illusionen.

Allenfalls könnte man dieses InstA 2.0 in ein «Bilaterale III»-Paket verpacken, mit neuen Abkommen in Bereichen wie Strom und Gesundheit. Bis der Bundesrat sich zu dieser Einsicht durchringen kann, dürfte es aber noch einige EU-Klausuren geben.

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340 Kommentare
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bokl
17.06.2022 06:29registriert Februar 2014
Wenn man die Verhandlungen einseitig abbricht und dazu öffentlich verkündet man werde eine vorteilhaftere Lösung erreichen, kommt es nicht gut. Hat sich ja schon bei der Anflugsregelung auf Kloten gezeigt. Aber gewisse Kreise sind halt lernresistent.
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Simon
17.06.2022 06:34registriert Januar 2014
Ob man es mag oder nicht: die EU ist ein riesiger Wirtschaftsraum, sie sorgt seit Jahrzehnten für Stabilität, wo vorher Unruhe und Krieg war und die Schweiz sitzt mittendrin und pickt Rosinen. Wer der EU den Untergang wünscht, übersieht, dass die Schweiz mitgerissen würde.
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DocShi
17.06.2022 06:24registriert Mai 2018
Tja, das passiert wenn man sich selbst überschätzt und keine Weitsicht hat.
Ich fand es damals schon stossend dass der BR in meinen Augen selbstherrlich das Abkommen versenkte.
Viele Kommentatoren wurden damals hier in den Spalten mit Blitzen versehen wenn sie dies kritisierten. Denn nicht wenige andere fanden damals dass wir in der Schweiz ja locker auch ohne die EU klar kämen. Und wir ja genügend Druck aufbauen könnten gegen die EU.
Satz mit x, das war wohl nix.
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