In Dänemark wähnt man sich derzeit in einer Parallelwelt. Die Clubs in Kopenhagen sind brechend voll, Restaurants und Konzerte ebenso. Alles ohne Maske oder Zertifikatspflicht. Selbst im ÖV muss keine Maske mehr getragen werden.
Am 10. September hatte das Corona-Vorzeigeland seinen «Freedom-Day», Covid-19 gilt seitdem offiziell nicht mehr als samfundskritisk sygdom – eine die Gesellschaft gefährdende Krankheit, sondern als ein endemisches Virus. Zu diesem Schritt hat man sich entschieden, weil die Impfquote in Dänemark sehr hoch ist. Über 75 Prozent der Gesamtbevölkerung sind geimpft, bei den über 65-Jährigen liegt der Anteil bei rund 97 Prozent.
In Singapur sieht es ähnlich aus. Der Stadtstaat war bis anhin dafür bekannt, eine Zero-Covid-Strategie zu verfolgen. Strikte Massnahmen, geschlossene Grenzen. Doch in den letzten Monaten änderte sich das, Singapur hat die Transition zu post-pandemischen Zeiten eingeläutet. Nicht zuletzt auch, weil mehr als 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Und ab einer Quote von 80 Prozent Immunisierten sollte die Herdenimmunität einsetzen, richtig?
Die Realität sieht etwas anders aus. Sowohl in Dänemark als auch in Singapur sind die Fallzahlen in den letzten Tagen und Wochen sprunghaft angestiegen. Die beiden Länder führen gerade in Echtzeit vor, wie schwierig die Transition hin zur Normalität sein wird. Dabei liefern sie uns drei Lehren, die es zu verstehen gilt.
Covid-19 ist in Dänemark nicht mehr epidemisch, sondern endemisch. Zumindest hat die Politik das so entschieden. Doch was heisst endemisch eigentlich genau? Und ab welchem Punkt wird ein Virus endemisch?
«Es gibt keinen fixen Punkt, an dem man sagen kann, jetzt ist das Virus endemisch geworden», sagt Jan Fehr, Infektiologe an der Universität Zürich. «Eine endemische Situation liegt vor, wenn sich SARS-CoV-2, so wie andere Krankheitserreger auch, so in unsere Gesellschaft eingegliedert hat, dass es nicht mehr zu einer Überlastung unseres Systems führt. Die Anzahl der Ansteckungen haben sich auf einem verträglichen Niveau eingependelt und das Virus wird so quasi zu unserem Haustier.»
Das heisst also: Es wird immer ein gewisses Grundrauschen geben, immer zu Ansteckungen kommen. Der Unterschied ist jedoch: Covid-19 wird nicht mehr ganze Bevölkerungsgruppen bedrohen, so wie dies letztes Jahr bei den über 80-Jährigen der Fall war.
«Das Ziel ist also nicht, das Virus zu eliminieren. Das Ziel ist, eine Situation zu schaffen, in der wir damit leben können», sagt Jan Fehr.
Dieses Ziel befindet sich leider nicht am Ende einer neu asphaltierten Strasse, der Weg führt eher über eine alte Schotterpiste. In Dänemark ist man sich dessen durchaus bewusst, eine Expertengruppe für mathematische Modellierung veröffentlichte das erwartete Szenario bis Mitte November mit täglich 600 bis zu 3200 Neuinfizierten und täglich 25 bis 110 neuen Einweisungen ins Krankenhaus. Kommt es zu einer Inzidenz von mehr als 500 Neuinfizierten pro 100'000 Einwohner, so kann die Regierung wieder eingreifen.
Dies führt uns zu der Frage der Herdenimmunität. Denn bis anhin ging man davon aus, dass selbst mit der Delta-Variante ab einer Quote von 80 Prozent Immunisierten eine Herdenimmunität entstehen sollte. Warum also steigen die Fallzahlen in Singapur und Dänemark?
«Die 80 Prozent sind nur ein Richtwert», sagt Jan Fehr. Auch die Herdenimmunität als solche sei nur ein Konzept. «Und jedes Konzept hat seine Stärken und Schwächen». Auch bei 80 Prozent Immunisierten gebe es immer noch 20 Prozent, die keinen Schutz haben. «Und wie bereits gesagt: Es geht nicht darum, das Virus zu eliminieren. Sondern darum, damit zu leben, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten».
Das sieht Lone Simonsen, Epidemiologin an der Universität Roskilde in Dänemark, ähnlich. Gegenüber dem Magazin «Science» erklärte sie, dass sie nicht beunruhigt sei ob den steigenden Fallzahlen. Die fortschreitende Ausbreitung werde zu einer stärkeren natürlichen Immunität bei ungeimpften Kindern und Erwachsenen führen, und die Durchimpfungsrate werde weiter ansteigen, meint sie. «All dies zusammen lässt mich glauben, dass Dänemark im Frühjahr die Herdenimmunität erreichen wird.»
Diese Aussage kann sich Simonsen nur leisten, weil die Durchimpfungsrate in Dänemark bereits so hoch ist und die älteren Generationen zu fast 100 Prozent geschützt sind. Das heisst nicht, dass Dänemark den richtigen Weg geht. Das wird man erst retrospektiv beurteilen können. Doch mit dem relativ geringen Risiko dank der hohen Impfquote ist Dänemark sicher einer der besten Kandidaten, um die Pionier-Rolle zu übernehmen.
In der Schweiz und anderen Ländern mit vergleichbar «niedrigen» Impfquoten sieht das anders aus. Wir müssen in der Übergangsphase ein höheres Mass an Einschränkungen in Kauf nehmen, um das Virus in Schach zu halten. Dass ohne Massnahmen und mit einer mittelmässigen Impfquote einfach alles gut wird, ist nicht realistisch.
Letztlich gibt es für uns nur zwei Optionen, wie wir zu einer Gesellschaft mit besserem Immunschutz finden: Entweder wir erreichen die endemische Phase über Ansteckungen. Doch den Preis dafür kennen wir vom letzten Winter: Viele schwere Erkrankungen inklusive Long-Covid und auch Todesfälle. Oder man wählt den Weg der Impfung. «Die Frage ist, was will die Gesellschaft? Momentan sieht es in der Schweiz so aus, als wähle man die Option der Durchseuchung», sagt Jan Fehr. «Ich habe die Hoffnung aber noch nicht komplett aufgegeben, unsere Impfquote auf ein dänisches Niveau heben zu können.»
Er geht nämlich davon aus, dass wir aktuell mit unseren Massnahmen keine Freiheiten hätten - aber wir haben nach wie vor die volle Freiheit zu entscheiden, ob und was wir tun möchten bezüglich Corona & Massnahmen.
In unserer direkten Demokratie mit der hochgehaltenen Meinungsfreiheit hatte ich nie das Gefühl, dass allgemein die Freiheit gefehlt hat und mit dem Freedom-Day wieder zurückkommen würde.