Der Sommer ist gerade erst zu Ende gegangen. Dennoch nehmen die Hospitalisationen mit Covid-19-Patienten bereits merklich zu. Sind Sie überrascht?
Ein wenig. Ich habe zwar mit einem saisonalen Effekt und einer Verstärkung der Transmissionen gerechnet. Allerdings ist das jetzt einen Monat früher eingetroffen als noch im letzten Jahr.
Ist das auf die ansteckendere Delta-Variante zurückzuführen?
Ja, aber auch auf die Lockerungen und die vermehrten Reiseaktivitäten.
Mit ein Grund für die angespannte Lage ist die tiefe Impfquote in der Schweiz. Momentan liegt sie bei etwas über 51 Prozent. Können Sie sich erklären, weshalb die Quote so tief ist?
Die Impfquote ist in vielen europäischen Ländern ähnlich tief. Man sieht aber in Umfragen, dass weitere 20 bis 30 Prozent der Impfung nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Von daher besteht die Hoffnung, dass die Impfquote jetzt nochmals deutlich hochgehen wird. Insbesondere, wenn mit der Impfung mehr Freizeitaktivitäten möglich werden.
Wenn also das Covid-Zertifikat breiter eingesetzt wird ...
Mit dem Zertifikat hat man die Möglichkeit, Events sicherer zu gestalten und die Verbreitung von Sars-Cov-2 besser zu kontrollieren.
Auch eine Impfung für Kinder unter zwölf Jahren könnte die Impfquote erhöhen. Wo stehen wir da?
Die Phase-3-Tests finden momentan statt. Es wird aber noch bis Ende Jahr dauern, bis man da die vollständigen Ergebnisse hat. Ich denke, dass es im neuen Jahr möglich sein wird, die Impfung für Null- bis Zwölfjährige anzubieten.
In Israel gelten jetzt nur noch diejenigen, die dreimal geimpft wurden, als immun. Ab sofort ist die Booster-Impfung für alle ab 12 Jahren möglich. Braucht es jetzt auch in der Schweiz eine dritte Impfung?
Das ist eine Diskussion, die ich momentan mit meinen Kolleginnen und Kollegen intensiv führe. Da müssen wir jetzt zusehen, inwiefern und für welche Bevölkerungsgruppen eine dritte Impfung sinnvoll wäre und wann das stattfinden könnte.
Wäre da nicht mehr Eile geboten? Die Risikopatienten wurden bereits zu Beginn des Jahres geimpft und es gibt immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die Schutzwirkung der Impfung nach sechs Monaten merklich nachlässt.
Am meisten Bauchschmerzen bereiten mir momentan die Fälle, die trotz Impfung schwere Krankheiten erleben. Da diskutieren wir jetzt, inwiefern das Verhindern von schweren Fällen mit einer dritten Impfung notwendig ist.
Sie denken also nicht, dass schwere Krankheiten bei doppelt Geimpften in den kommenden Wochen merklich zunehmen werden?
In Israel hat man sicher diese Bedenken gehabt und deswegen die dritte Impfung so schnell implementiert. Bei uns ist das noch in der Abklärung.
Die WHO forderte unlängst einen Stopp der Booster-Impfungen. Stattdessen sollten die Impfstoffe in ärmere Länder verteilt werden. Wie ordnen Sie diese Forderung ein?
Die Forderung ist verständlich. Allerdings hat ein Land auch die Verantwortung, seine eigenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Daher ist das zweigleisige System, das die Schweiz jetzt fährt, sinnvoll. Bestimmte Impfungen werden an andere Länder abgegeben, gleichzeitig werden genügend mRNA-Impfstoffe für allfällige Booster-Impfungen zurückgehalten.
Werden wir überhaupt jemals so etwas wie eine Herdenimmunität erreichen?
Wenn die Herdenimmunität bedeutet, dass es nicht mehr zu schweren Infektionen kommt, dann ist das erreichbar. Damit es aber überhaupt nicht mehr zu Transmissionen kommt, bräuchte es einen synchronisierten Immunschutz. Das heisst, dass alle Leute gleichzeitig einen hohen Immunschutz haben.
Und dazu wird es nicht kommen?
Das ist wahrscheinlich nicht möglich. Diejenigen, die schon länger nicht mehr geimpft oder infiziert wurden, werden reinfiziert werden. Das wird für viele keine schwere Erkrankung bedeuten, aber das Virus wird dennoch in der Bevölkerung weitergegeben. Zu einer vollkommenen Unterbindung von Sars-Cov-2 wird es nicht kommen.
Aktuell ist die Delta-Variante dominant. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie durch eine neue Variante abgelöst wird?
Das ist möglich.
Müsste diese zwangsläufig noch ansteckender sein? Oder sogar Impfungen umgehen können?
Das ist im Moment noch etwas schwer abzuschätzen. Die Möglichkeit besteht. Allerdings hat man jetzt gesehen, dass die meisten Veränderungen innerhalb ähnlicher Regionen des Spike-Proteins stattgefunden haben. Das kann zwar eine gewisse Absenkung des Immunschutzes mit sich bringen. Aber das wird nicht zwingend bedeuten, dass die Impfungen dann überhaupt nicht mehr wirken.
Müssen wir in Zukunft alle sechs bis zwölf Monate zum Impftermin?
Nein, das denke ich nicht. Wenn das Virus ausreichend zirkuliert, dann reichen die Reinfektionen aus, um unser Immunsystem zu boosten. Wir werden uns infizieren, wenn wir noch einen genügend hohen Immunschutz haben, was nicht zu schweren Krankheitsverläufen führt.
Impfungen gegen Corona werden also bald nicht mehr nötig sein?
Ich glaube, dass die Impfungen nur für die Zeit nötig sein werden, in der wir das Virus nicht frei zirkulieren lassen können. Haben nahezu 100 Prozent der Leute eine Grundimmunität erreicht, müssen die Transmissionen nicht mehr durch Massnahmen künstlich niedrig gehalten werden. Solange nicht unvorhergesehene Mutationen auftauchen, braucht es dann auch keine Impfungen mehr.
Momentan kann das Virus in der Schweiz ziemlich frei zirkulieren. Erhalten Leute, die sich etwa im Mai zum zweiten Mal haben impfen lassen, möglicherweise auf natürliche Weise einen Booster, indem sie mit dem Virus in Kontakt kommen?
Ja, genau, das ist gut möglich ...
... und sie merken davon gar nichts ...
Die meisten Geimpften werden davon wenig oder sogar nichts merken. Sie werden zwar mit dem Virus in Kontakt kommen, aber nur milde Symptome entwickeln oder sogar asymptomatisch bleiben.
Wann wird in der Schweiz eine Grundimmunität von nahezu 100 Prozent vorhanden sein?
Im kommenden Winter werden wir dem ziemlich nah kommen. Entweder werden die Leute durch die Impfung oder durch eine Ansteckung immun.
Wo stehen wir momentan? Wie viel Prozent der Bevölkerung sind immun?
Etwas mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind geimpft. Von den Ungeimpften haben etwa 15 bis 30 Prozent bereits eine gewisse Immunität aufgebaut. Jetzt ist die Frage massgeblich, wie wir die Welle mit ungeimpften Covid-Patienten derart abflachen können, damit unser Gesundheitssystem alle Erkrankten korrekt versorgen kann. Diese Abflachung müssen wir hinbekommen.
Das klingt danach, als ob das Gröbste nach diesem Winter durch wäre.
Ja, im nächsten Frühling werden wir vermutlich die Pandemie weitgehend im Griff haben.
Und dann? Werden nicht Schlag auf Schlag neue globale Pandemien folgen?
Wieso meinen Sie?
Die Gefahr von Zoonosen steigt. Wir sind immer mehr Menschen, dringen in neue Lebensräume vor und sind immer vernetzter ...
Man muss schon sehen: Die Pandemie, die wir jetzt erleben, ist schon so etwas wie «der perfekte Sturm».
Erläutern Sie!
Es gibt zwar häufig Zoonosen, aber die werden nicht so effizient von Mensch zu Mensch übertragen. Zoonosen dürfen auch nicht zu pathogen sein, um sich um den Globus zu verbreiten. Bei Zoonosen wie Ebola limitieren sich die Pandemien selber, da sie die Leute zu krank machen. Dann gibt es auch noch Zoonosen, die überhaupt nicht krank machen, die führen auch nicht zu Pandemien.
Sars-Cov-2 war da entschieden anders.
Es war die Mischung gewisser Faktoren, die dazu geführt hat, dass Sars-Cov-2 zur globalen Pandemie wurde. Es war den Leuten für längere Zeit möglich, sich trotz Infektion zu bewegen und das Virus weiterzugeben.
Sie sehen also keine imminente Gefahr, dass es in den nächsten fünf Jahren zur nächsten globalen Pandemie kommt?
Ich denke, dass es immer wieder kleinere Ausbrüche geben wird. Alle zehn Jahre vielleicht. So wie wir es in der Vergangenheit mit dem Zika-Virus, Ebola oder den Coronaviren gesehen haben. Aber es wird wahrscheinlich eine erhebliche Zeit dauern, bis sich ein Virus weltweit wieder so effizient ausbreiten kann.
Aber nochmals: Hat denn die Wahrscheinlichkeit für eine globale Pandemie nicht merklich zugenommen? Wir sind doch jetzt viel mehr Menschen und reisen viel schneller um die Erde als noch vor 100 Jahren.
Ja, die Vernetzung ist durchaus ein Problem. Aber die zunehmende Hygiene steuert dem wieder entgegen. Wie sich diese beiden Entwicklungen die Waage halten, ist schwierig abzuschätzen. Es ist schon so, wenn man sich das Reservoir an Influenza-Viren in Tieren anschaut, da wird es einem ganz schwindelig. Auch das Reservoir an Viren, die unter Fledermäusen kursieren, ist beträchtlich. Allerdings ist die Spezies-Übertragung zwischen Mensch und Tier dann meistens doch nicht so trivial.
Das stimmt einigermassen zuversichtlich. Blicken Sie auch so optimistisch auf den kommenden Herbst und Winter? Schaffen wir diesen letzten Kraftakt?
Ob wir die kommenden Wochen und Monate gut überstehen, hängt davon ab, ob wir die Infektionswelle, die massgeblich unter den Ungeimpften und unter älteren sehr früh Geimpften stattfindet, im Griff behalten können. Da ist es meiner Meinung nach schon so, dass es zu einer breiteren Anwendung der Corona-Zertifikate kommen sollte.
I Like!