Was haben Nepal und Äthiopien gemeinsam? Sie liegen beide im Globalen Süden, gehören zu Entwicklungsländern und sind beide von vielen Schluchten und Flüssen durchzogen, die ohne Brücken kaum zu passieren sind. Was sie verbindet? Brücken. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne.
Das ist die Geschichte eines Projekts, das nicht nur Ortschaften, sondern auch Menschen und Kulturen miteinander verbindet und zeigt, wie mit Schweizer Unterstützung Armut bekämpft wird.
Das ostafrikanische Land mit 123 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zeichnet sich durch eine diverse und zerklüftete Topografie aus. Besonders die Hochebenen und Berge sind von tiefen Schluchten durchzogen, die sich in der Regenzeit in reissende Flüsse verwandeln.
Was schön fürs Auge ist, stellt für die lokalen, ländlichen Bewohnerinnen und Bewohner im Alltag eine grosse Herausforderung dar. Viele Schluchten können sie gar nicht, nur während der Trockenzeit oder nur mit grossen und anstrengenden Umwegen überqueren.
So auch in Ziquala, in der Region Amhara, im Norden Äthiopiens, wo die 33-jährige Genet Kessie mit ihren sechs Kindern lebt.
Sie hat ein kleines Geschäft, in dem sie unter anderem selbst Bier braut. Um es auf dem Markt verkaufen zu können, musste sie bis vor Kurzem eine tiefe Schlucht entweder durchqueren oder bei Regenzeit einen weiten Umweg bis zur nächsten Brücke machen. Ihre sechs Kinder standen auf dem Schulweg vor derselben Herausforderung.
Probleme, die der nepalesische Brückeningenieur Pasang Sherpa nur zu gut kennt. In seiner Heimat haben er und seine Kollegen die Lösung in den vergangenen Jahrzehnten perfektioniert.
Grund für die nepalesische Expertise ist unter anderem Schweizer Unterstützung: Die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas engagierte sich ab 1960 beim Bau von Hängebrücken in Nepal, die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) stiess 1972 hinzu. Dank dieser Unterstützung konnten in dem asiatischen Land seit den 1960er-Jahren über 10'000 Brücken gebaut und dadurch ländliche Dörfer erschlossen werden. 19 Millionen Menschen profitieren von den gebauten Brücken, die das gesamte regionale Wachstum anregen.
Das Projekt war ein Erfolg: Letztes Jahr konnten Helvetas und die DEZA die Zügel komplett an die nepalesische Regierung übergeben, welche den Brückenbau jetzt unabhängig weiterführt.
Das Brückenprojekt blieb aber nicht auf Nepal beschränkt: Helvetas rief 2009 die Süd-Süd-Kooperation (South-South-Cooperation-Unit, kurz SSCU) ins Leben, um das Wissen und die Erfahrung über die Grenzen von Nepal hinaus weiterzugeben. Die nepalesische Expertise soll so Millionen von Menschen in anderen Ländern des Globalen Südens den Zugang zum ländlichen Raum erleichtern.
Einer der ersten nepalesischen Brückeningenieure in Äthiopien war Pasang Sherpa. Der Nepalese ist bereits seit 26 Jahren im Brückenbausektor tätig.
Pasang ist im Distrikt Solukhumbu, im Osten Nepals, mit drei Brüdern und vier Schwestern aufgewachsen. Zum Brückenbauer wurde er aufgrund persönlicher Erfahrung, wie er gegenüber watson erklärte: Sein Vater, der als Koch gearbeitet hatte, habe auf dem Arbeitsweg stets einen grossen Fluss überqueren müssen – den Solu Khola. Dieser sei lediglich über eine hölzerne Brücke ohne Geländer passierbar gewesen. Pasang erzählt:
Sein Vater habe hart gearbeitet und sei oft erst spätnachts nach Hause gekommen. Teilweise stundenlang hätten er und seine Familie durch die Fenster nach ihm Ausschau gehalten und ängstlich auf seine Ankunft gewartet. Für den kleinen Jungen eine so prägende Erfahrung, dass er sich bereits damals vornahm, Ingenieurwesen zu studieren, um eines Tages eine sichere Brücke über den Solu Khola errichten zu können.
Nach seinem Studium liess sich Pasang 1996 von Helvetas zum Brückenbauer ausbilden. Seither hat er in Nepal Dutzende von Brücken gebaut und dabei auch sein in der Kindheit gesetztes Ziel erreicht: Über den Solu Khola führt heute eine stabile, sichere Brücke.
Als Pasang hörte, dass Helvetas Rahmen der SSCU nepalesische Ingenieure ins Ausland versendet, meldete er sich. 2009 reiste er erstmals nach Äthiopien und ist seither mehrere Monate pro Jahr in Äthiopien, um den Bau diverser Brücken zu begleiten und zu unterstützen.
Sowohl in Nepal als auch in Äthiopien ist der Brückenbau mit ähnlichen Herausforderungen verbunden. Baumaterial für die Brücken muss oftmals über weite Distanzen transportiert werden, erzählt Pasang. Die Arbeit ist hart, doch die lokale Bevölkerung packt mit an. So bildet sie etwa lange Menschenketten, um tonnenschwere Stahlseile zur Baustelle zu tragen. Beobachtungen und Erfahrungen, die Pasang berühren:
Wenn der Nepalese spricht, hört man den Stolz in seiner Stimme:
Dank der Brücken können Menschen ihre Ziele endlich rechtzeitig erreichen, erzählt Sherpa weiter. Kinder sind pünktlich in der Schule, Bauern und Bäuerinnen können ihre geernteten Früchte verkaufen, bevor sie zu faulen beginnen und schwangere Frauen oder Kranke erreichen das Spital in Notfällen in kurzer Zeit. Pasang betont:
Der Brückenbau in Äthiopien geht aber weit über den technischen Wissensaustausch hinaus. Pasang ist auch an einem kulturellen und sozialen Austausch interessiert. Sein äthiopischer Kollege Sewnet Assegu kann das bestätigen. Pasang spricht mittlerweile gut Amharisch – eine der offiziellen Sprachen Äthiopiens – und ist Teil der äthiopischen Gemeinschaft geworden. Wie die beiden erzählen, gehört Pasang quasi zu Swenets Familie, wird zu Hochzeiten eingeladen und hat den amharischen Namen «Maru» erhalten, der übersetzt «süsser Honig» bedeutet.
Vor einigen Wochen war Pasang erneut in Äthiopien und hat dabei auch seinen Freund Sewnet wieder gesehen. Gemeinsam besuchten sie zwei Brücken in der Amhara-Region: die im letzten Jahr fertig gestellte Brücke in Ziquala und die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Bau befindende Brücke in Goja. Die erste Brücke wird von 2000 Haushalten, die zweite Brücke von 9000 bis 10'000 Haushalten genutzt.
Die seit 2009 laufende nepalesische Unterstützung in Äthiopien zahlt sich aus: Immer mehr lokale Auftragnehmer und Berater werden selbst zu Brückenexperten wie Pasang einst. Und immer mehr Menschen in Äthiopien können sich gefährliche Schluchtüberquerungen und zeitintensive Umwege sparen.
Pasang Sherpa hätte sich wohl nie erträumt, dass er dereinst nicht nur in seinem Heimatdorf, sondern über die Dorf- und Landesgrenzen hinweg Brücken bauen wird – und dabei auf dem afrikanischen Kontinent eine zweite Familie findet.