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«Der Fall Assange ist wie ein dunkles Familiengeheimnis»

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Julian Assange bei seiner Festnahme im April 2019.Bild: keystone

UNO-Folterexperte Nils Melzer: «Der Fall Assange ist wie ein dunkles Familiengeheimnis»

Der Schweizer Jurist Nils Melzer überwacht für die UNO das Folterverbot und hat ein Buch über seine Untersuchung zum Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange geschrieben. Dessen Rechte seien massiv verletzt worden, sagt Melzer. Und warnt vor der «gefährlichen» PMT-Vorlage, die am 13. Juni zur Abstimmung kommt.
19.04.2021, 05:4419.04.2021, 12:00
Christoph Bernet / ch media
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Sie erheben in Ihrem Buch schwere Vorwürfe gegen westliche Staaten im Umgang mit Julian Assange. Was hat Sie bei Ihrer Untersuchung am meisten schockiert?
Nils Melzer: Die Erkenntnis, dass der Rechtsstaat offenbar auch in westlichen Demokratien vollkommen ausgehebelt werden kann. Ich habe in den letzten 20 Jahren oft in Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet und viele schwere Rechtsverletzungen gesehen. Aber ich habe immer daran geglaubt, dass in den westlichen Demokratien wenigstens noch der gute Wille vorhanden ist, rechtsstaatlich zu handeln.

Bei Assange fehlte dieser Wille?
Die Rechte von Assange wurden in jedem Stadium jedes Verfahrens in jedem Land massiv verletzt. Vereinzelte Verfahrensfehler können überall mal passieren. Doch als ich die betroffenen Regierungen offiziell darauf hinwies, verweigerten diese jeden Dialog und jede Korrektur. Ob man Assange, seine Ziele und Methoden nun befürwortet oder nicht: Wir schulden ihm eine rechtsstaatlich korrekte Behandlung. Gleichzeitig wurde kein einziges der von Wikileaks aufgedeckten westlichen Kriegsverbrechen – immerhin Folter und Massenmord – verfolgt. Spätestens hier müsste eigentlich für jeden klar sein, dass die betroffenen Regierungen im Fall Assange nicht im guten Glauben handeln – und es daher natürlich auch in anderen Fällen nicht tun. Die harte Wahrheit ist, dass wir unseren Behörden nicht vertrauen können.

Sie beschäftigen sich jährlich mit Hunderten von Fällen. Weshalb haben Sie gerade über den Fall Assange ein Buch geschrieben?
Ich bin von der UNO mandatiert, die Einhaltung des Folterverbotes durch Staaten zu überwachen. Ich bin somit Teil des Staatensystems. Im Fall Assange habe ich sowohl bei den betroffenen Staaten Schweden, Grossbritannien, Ecuador und USA direkt als auch innerhalb der UNO interveniert – ohne Erfolg. Es wird totgeschwiegen. Die Verfolgung und Misshandlung von Assange ist wie ein dunkles Familiengeheimnis, von dem alle wissen, aber über das niemand reden darf. Mit diesem Buch trete ich nun an die Öffentlichkeit und werde gewissermassen selber zum Whistleblower. Täte ich das nicht, würde ich zum Komplizen eines verlogenen Systems.

Nils Melzer (50) ist Professor für Völkerrecht und seit 2016 UNO-Sonderberichterstatter für Folter.
Nils Melzer (50) ist Professor für Völkerrecht und seit 2016 UNO-Sonderberichterstatter für Folter.bild: Keystone

Was ist daran verlogen?
Die westlichen Staaten haben sich den Einsatz für die Menschenrechte auf die Fahne geschrieben, weigern sich aber, den eigenen Laden in Ordnung zu halten. Bei Alexey Nawalny gehen sie auf die Barrikaden, weil er in Russland wegen einer Kautionsverletzung ins Gefängnis muss. Doch wenn Grossbritannien Assange wegen exakt desselben Vergehens in Isolationshaft steckt, wird das totgeschwiegen.

Ihr Buch weist auf zahlreiche Ungereimtheiten im Fall Assange hin. Ihre Kritiker bemängeln, Sie hätten zu wenig schlüssige Beweise für Ihre schweren Vorwürfe.
Es ist eine Tatsache: Julian Assanges Rechte werden seit mittlerweile 10 Jahren von jedem der involvierten Staaten in geradezu grotesker Weise verletzt. Keine dieser Rechtverletzungen wurde je korrigiert, und keines der von Wikileaks bewiesenen Verbrechen wurde je verfolgt. Mein Buch präsentiert die von mir ermittelten Fakten und Beweise nun erstmals in leicht zugänglicher Form.

Assanges juristische Schwierigkeiten beginnen im August 2010 in Stockholm. Er hat Geschlechtsverkehr mit zwei Frauen. Eine wird ihm vorwerfen, dabei ein Kondom absichtlich beschädigt zu haben, die andere sagt, er sei im Halbschlaf ungeschützt in sie eingedrungen. Was kritisieren Sie am darauffolgenden Verfahren?
Ich weiss natürlich nicht, was genau geschehen ist zwischen Assange und den beiden Frauen. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Obwohl die Frauen selber aber nachweislich keine Anzeige erstatten, sondern Assange nur zu einem HIV-Test bewegen wollten, wurde innert Stunden gegen ihren Willen ein Vergewaltigungsnarrativ herbeigezwungen und sofort über die Massenmedien verbreitet. Dies, obwohl auch von Anfang an klar war, dass beide Vorwürfe unmöglich zu beweisen waren, sodass es ohne Geständnis von Assange zwingend zu einem Freispruch «im Zweifel für den Angeklagten» kommen musste. Den Behörden ging es nie um Recht und Gerechtigkeit, sondern vor allem darum, Assange mit diesen Vorwürfen medienwirksam zu diskreditieren.

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Assange mit Fussfessel im Jahr 2011.Bild: keystone

Wie verhielt sich Assange?
Assange blieb freiwillig einen Monat länger in Stockholm und liess sich bereits nach wenigen Tagen von der Polizei befragen. Sobald klar war, dass sich die Vorwürfe nicht beweisen liessen, begann jedoch die Staatsanwaltschaft, das Verfahren zu verzögern und verweigerte Assange jede weitere Anhörung. Sofort nach seiner – von den Behörden zuvor bewilligten – Ausreise nach Berlin wurde dann aber ein Haftbefehl erlassen mit der Behauptung, er habe sich der Justiz entziehen wollen. Inzwischen ermittelten die USA wegen Spionage gegen Assange, doch Schweden verweigerte ihm jede Nicht-Auslieferungsgarantie an die USA, sodass er schliesslich in der ecuadorianischen Botschaft in London Asyl beantragte und bekam. Schweden behauptete nun jahrelang, Assange verhindere seine Einvernahme durch die Behörden, doch als er 2019 von den Briten verhaftet wurde und für eine Befragung und Auslieferung zur Verfügung stand, stellte Schweden das Verfahren plötzlich aus Mangel an Beweisen ein.

Während des US-Wahlkampfs 2016 veröffentliche Wikileaks die «DNC Leaks», E-Mails aus dem Innern von Hillary Clintons Kampagne. Im Buch schreiben Sie dabei von den «korrupten Demokraten» und dem «politisch-finanziellen Establishment». Machen Sie sich mit dieser Trump-Rhetorik nicht unglaubwürdig?
Ich bin überhaupt kein Trump-Fan. Als Sonderberichterstatter für Folter hatte ich keine Freude an einem US-Präsidenten, der Waterboarding bejubelt. Niemand bestreitet aber die Authentizität der DNC-E-Mails, und diese beweisen nunmal Manipulation – allerdings nicht durch Assange, sondern durch die Clinton-Kampagne bei den Vorwahlen der Demokraten. Das muss im Interesse der Wähler doch veröffentlicht werden. Wie in jedem Wahlkampf wurde versucht, damit die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Genauso wie zuvor mit der Veröffentlichung von Tonaufnahmen mit sexistischen Aussagen von Trump. Assange mag eine Präferenz für Trump gehabt haben, andere Journalisten bevorzugten Clinton. Zu einem Wahlmanipulator macht ihn das nicht. Und die einzigen Hinweise für die Behauptung, Wikileaks habe die DNC-Leaks vom russischen Geheimdienst erhalten, stammen wiederum von den US-Geheimdiensten. Diejenigen, die uns schon das Märchen von den Massenvernichtungswaffen im Irak erzählt haben und jedes Mal «Russland» schreien, wenn sie von der eigenen Korruption ablenken wollen.

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Hillary Clinton in einer Rede nach ihrer Wahlniederlage. Im Hintergrund ihr Ehemann Bill (9. November 2016).Bild: EPA/ABACA POOL

Sie warnen vor gravierenden weltweiten Konsequenzen für die Pressefreiheit, sollte Assange an die USA ausgeliefert und dort verurteilt werden. Weshalb?
Die Spionageanklage gegen Assange zielt darauf ab, jede Berichterstattung über Informationen, welche die Regierung geheim halten will, zu kriminalisieren. Sowohl der «Espionage Act» in den USA als auch der britische «Official Secrets Act» bestrafen solche Veröffentlichungen, auch wenn sie Korruption und Verbrechen beweisen oder sonst dem öffentlichen Interesse dienen. Das hat nicht nur für Wikileaks Konsequenzen, sondern für jede regierungskritische Berichterstattung. Denn die Regierungen kontrollieren ja selber, was als «geheim» erklärt wird und was die Öffentlichkeit noch zu sehen bekommt.

Für Sie macht der Fall Assange ein «generelles Systemversagen» sichtbar. Haben Sie das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren?
Das Problem ist nicht der Rechtsstaat, sondern seine Umsetzung. Damit dieser in der Praxis funktioniert, müssen wir ihn so aufbauen, dass wir der menschlichen Natur gerecht werden. Wir dürfen nicht vom gesunden Menschenverstand oder vom guten Willen einzelner Personen oder Behörden abhängig sein, damit der Rechtsstaat in der Praxis funktioniert. Wir sind alle anfällig auf Machtmissbrauch. Deshalb braucht es immer eine externe, unabhängige Aufsicht, Kontrollen und Transparenz.

Um Transparenz und Kontrolle geht es auch im Abstimmungskampf über das Gesetz über polizeiliche Massnahmen gegen Terrorismus (PMT). Sie haben das PMT scharf kritisiert. Warum?
Unser Strafrecht stellt bereits heutzutage Vorbereitungshandlungen für Gewaltverbrechen unter Strafe. Mit dem neuen Gesetz werden der Bundespolizei (Fedpol) nun aber sehr weitgehende Eingriffe in die Grundrechte erlaubt, auch wenn keinerlei Gefahr einer Straftat besteht. Denn die neue Terrorismusdefinition im Gesetz ist extrem weit gefasst, unprofessionell und gefährlich.

Was ist daran gefährlich?
In allen demokratischen Rechtsstaaten umfasst die Terrorismusdefinition, vereinfacht gesagt, stets dieselben drei kumulativen Elemente: Man verbreitet durch die Ausübung oder Androhung von Gewaltverbrechen Furcht und Schrecken, um damit einen politischen Zweck zu erreichen. Gemäss PMT gelten diese Elemente nun aber nicht mehr kumulativ, sondern alternativ: Zusätzlich zum politischen Zweck braucht es jetzt nur noch entweder «die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten» oder «die Verbreitung von Furcht und Schrecken». Ein Element reicht bereits aus. Das heisst: Wer beispielsweise mit einer politischen Rede Angst vor Ausländern oder Umweltkatastrophen schürt, erfüllt formell bereits die Terrorismusdefinition des PMT.

In einem Interview behaupteten Sie, Greta Thunberg oder Christoph Blocher könnten unter dem PMT als terroristische Gefährder eingestuft werden. Das ist populistisch argumentiert.
Überhaupt nicht. Ich bin Jurist und lege einfach dar, welche Personen diese Formulierung theoretisch mit einschliesst. Als «terroristischer Gefährder» wird man immerhin polizeilichen Zwangsmassnahmen unterworfen. Das muss sauber definiert sein, sonst kommt es irgendwann zwangsläufig zu Missbräuchen.

Was stört Sie sonst noch am Gesetz?
Wir müssen uns bewusst sein, dass die von dem Fedpol erstellten «Terror-Listen» weit über das PMT und die Schweiz hinaus Wirkung haben werden. Unsere Behörden sind international vernetzt. Die Entscheide des Fedpol basieren teilweise auf Informationen von ausländischen Geheimdiensten aus Ländern wie Pakistan und Ägypten. Es ist sehr schwierig, die Zuverlässigkeit dieser Informationen zu überprüfen.

Wie liesse sich dieses Problem angehen?
Einfache Lösungen gibt es nicht. Wichtig ist auch hier eine unabhängige Aufsichtsinstanz, die vollen Zugang zu diesen Informationen hat, die Arbeit des Fedpol überprüfen und bei Machtmissbrauch eingreifen kann.

Effiziente Terrorbekämpfung braucht internationalen Austausch – und die Schweiz das Vertrauen anderer Nachrichtendienste.
Die Qualität der Informationen, welche die Geheimdienste untereinander austauschen, ist oft fragwürdig. Das zeigen die vielen Zivilisten, welche von lokalen Informanten missbräuchlich auf die CIA-Listen für US-Drohnenangriffe gesetzt werden. Etwa weil Geschäftskonkurrenten sie loswerden wollten. Die Schweiz sollte deshalb davon absehen, Leute auf reinen Verdacht hin auf Gefährderlisten zu setzen und diese mit anderen Ländern austauschen. Ich weiss von meiner Arbeit in Kriegsgebieten, wie real die Terrorismusgefahr sein kann. Das muss bekämpft werden. Aber die westliche Strategie des «War on Terror» hat versagt.

Was wäre der richtige Weg?
Wir sollten uns für eine Systemreform einsetzen – und das aktuelle System nicht noch mit fehlgeleiteten Definitionen auf die Spitze treiben. Es wäre auch langsam an der Zeit, einmal grössere Fragen zu stellen. Beispielsweise, wie viel unser ausbeuterisches Wirtschaftssystem und das globale Ungleichgewicht zum Symptom Terrorismus beitragen.​

Buchhinweis Nils Melzer: Der Fall Julian Assange. Geschichte eine Verfolgung. Piper. 336 Seiten.

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Sieben Jahre in der Botschaft: Der Fall Julian Assange
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Sieben Jahre in der Botschaft: Der Fall Julian Assange
Sommer 2010: Von Juli bis Oktober veröffentlicht die Enthüllungsplattform Wikileaks rund 470'000 als geheim eingestufte Dokumente, die mit diplomatischen Aktivitäten der USA und mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak zu tun haben. Weitere 250'000 Dokumente kommen später hinzu.
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Julian Assange in der Botschaft Ecuadors festgenommen
Video: srf
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54 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Cpt. Jeppesen
19.04.2021 06:56registriert Juni 2018
Die für mich wichtigste Aussage aus dem Interview: " Wir dürfen nicht vom gesunden Menschenverstand oder vom guten Willen einzelner Personen oder Behörden abhängig sein, damit der Rechtsstaat in der Praxis funktioniert. Wir sind alle anfällig auf Machtmissbrauch."
Wir möchten glauben es sei schon rechtens, wenn die Polizei jemanden abholt. Die wenigsten aber wissen wie hilflos eine Person ist, ab dem Moment wo sie in Gewahrsam ist.
Und die Angestellten im System arbeiten alle nur nach Vorschrift., da wird nichts hinterfragt, da gibt es kein Mitleid.
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Fastadi
19.04.2021 07:06registriert September 2015
Könnte dem Gesagten nicht stärker zustimmen! Nein zum PMT!
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stadtzuercher
19.04.2021 08:21registriert Dezember 2014
Der amerikanische Präsident Biden droht lieber populistisch Russland wegen der Inhaftierung von Nawalny, anstatt wegen Assange vor der eigenen Tür zu kehren.
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