Eigentlich ist das Vorhaben simpel: Die Istanbul-Konvention will Frauen vor Gewalt schützen, im eigenen Heim und auf den Strassen. Mit der Konvention wollte der Europarat einen verbindlichen Rechtsrahmen schaffen, dem sich auch die Schweiz im Jahr 2018 angeschlossen hat. In der Nacht auf Sonntag ist die Türkei vom Übereinkommen ausgetreten.
«Das macht mir grosse Sorgen. Für die Frauen in der Türkei sowie für jene in anderen Ländern, die der Konvention noch gar nicht beigetreten sind», sagt SP-Ständerätin Eva Herzog (BS). Auch das Departement für auswärtige Angelegenheiten zeigt sich in einem Tweet besorgt. Die Konvention sei ein wichtiges Instrument, um Gewalt an Frauen zu bekämpfen.
Switzerland is deeply concerned about Turkey’s announced withdrawal from the @coe’s #IstanbulConvention. The Convention is a vital tool in combatting #ViolenceAgainstWomen and protects the fundamental right of women to live without violence #IstanbulConventionSavesLives
— Swiss MFA (@SwissMFA) March 22, 2021
Mit der Schweiz haben aktuell 34 Staaten die Istanbul-Konvention ratifiziert. Dadurch sind sie verpflichtet, gegen alle Formen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt sowie gegen Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation vorzugehen. Ziel der Konvention ist «eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern». Bei der Frage, wie weit die Schweiz in diesen Punkten ist, scheiden sich die Geister.
«Der Beitritt der Schweiz zur Konvention war ein wichtiger Meilenstein», sagt Hanna Jordi vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Frau und Mann (EBG). Das Büro koordiniert die Umsetzung der Istanbul-Konvention auf Bundesebene.
Für die Errichtung von Betreuungs- und Beratungsangeboten sind die Kantone zuständig, respektive die Schweizerische Konferenz gegen häusliche Gewalt (SKHG). Die SKHG hat im Jahr 2018 die Massnahmen-Pläne der Kantone zusammengefasst: Sie reichen von Runden Tischen über Informationskampagnen bis zu Schutzunterkünften für Frauen.
«Der Beitritt zur Konvention hat auch zur Sensibilisierung für die Thematik beigetragen», sagt Hanna Jordi vom EBG. Diese Ansicht teilt Simone Eggler vom Netzwerk Istanbul Konvention: «Seit die Konvention in der Schweiz in Kraft ist, wird Gewalt an Frauen als Gewalt in Bezug auf das Geschlecht behandelt. Vorher wurde nur Häusliche Gewalt bearbeitet», so Eggler.
Allerdings sehen Politikerinnen in der Umsetzung der Konvention bis heute Lücken. So etwa beim Angebot von Telefonberatungen: Die Konvention sieht vor, dass der Bund eine kostenlose, landesweite und täglich rund um die Uhr erreichbare Beratung einrichten müsse.
Schon als der Bundesrat die Istanbul-Konvention im Jahr 2017 unterzeichnete, wollte er, dass dieser Punkt geprüft wird. Das passiert derzeit: Die Basler SP-Ständerätin Eva Herzog hat Ende 2020 einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Er fordert, dass der Bundesrat ein schweizweites, 24-Stunden-Beratungsangebot für Opfer von Gewalt einrichtet.
Doch hier liegt der erste Stolperstein: Der Bundesrat sieht die Zuständigkeit bei den Kantonen. Sie sollten Beratungsangebote errichten. Er sei bereit, eine koordinierende Rolle zu übernehmen.
Dass der Bund die Ausführung an die Kantone abdelegiere, sei zwar rechtens, sagt FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher. Das Problem daran: «Die aktuellen Angebote in den Kantonen decken den Bedarf nur zu bestimmten Tageszeiten. Vor diesem Hintergrund reicht eine rein koordinierende Rolle des Bundes meiner Auffassung nach nicht», so die Nationalrätin.
Neben dem Einwand des Bundesrates wird das Anliegen allerdings auch im Nationalrat bekämpft. Vincenz-Stauffacher, die das Anliegen in der grossen Kammer einreichte, hat nicht mit dieser Reaktion gerechnet. «Dass die Vorlage im Nationalrat bekämpft wird, hat mich angesichts des klaren Handlungsbedarfs überrascht.» Sie vermutet: «Gerade im aktuellen Jubiläumsjahr wird zwar viel über Frauenrechte gesprochen – beim Handeln harzt es dann aber öfters.»
Die Bekämpferin der Vorlage ist SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler. Die ehemalige Polizistin findet, ein schweizweites 24-Stunden-Beratungsangebot gäbe es bereits: «Bei Notfällen in der Nacht und am Wochenende rückt die Polizei sofort aus. Wenn es allerdings um eine Beratung geht, können sich die Betroffenen zu den Büro-Öffnungszeiten bei den bestehenden Hilfestellen melden.» Das Angebot auszuweiten wäre unverhältnismässig teuer und würde niemandem einen Mehrwert bringen, so Geissbühler.
Das Netzwerk Istanbul Konvention spricht sich ebenfalls für die 24-Stunden-Beratung aus. In ihren Augen sei das allerdings nur eine von vielen Lücken. «Man hat noch nicht für alle Formen von Gewalt ein Angebot, so etwa für Betroffene von Online-Gewalt. Und auch bei der Prävention ist die Schweiz noch nirgendwo», sagt Simone Eggler vom Netzwerk. Das Problem liege bei den Finanzen: «Es fehlt massiv an Gelder, um die Istanbul-Konvention umzusetzen.»
Beratungsstellen würden zwar gerne mehr leisten, sagt Eggler weiter. «Sie können aber nicht, weil das Geld fehlt.» Die Kantone müssten mehr Budget sprechen und der Bundesrat sollte sich ebenfalls an der Finanzierung der Angebote beteiligen.
Ein anderer Punkt, bei dem das Schweizer Gesetz von der Konvention abweicht, ist das revidierte Sexualstrafrecht: Der aktuelle Revisionsvorschlag verlangt keine Zustimmungs-, beziehungsweise «Ja heisst Ja»-Lösung.
Im Gegensatz dazu will die Istanbul-Konvention, dass die fehlende Einwilligung im Mittelpunkt jeder rechtlichen Definition von Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt steht. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen zeigen sich entsprechend enttäuscht vom Schweizer Revisionsvorschlag zum Sexualstrafrecht.
Wie gross die Lücken in der Umsetzung der Istanbul-Konvention tatsächlich sind, wird sich bald zeigen. Länder, die die Konvetion ratifiziert haben, müssen regelmässig Rechenschaft beim Europarat ablegen. Das zuständige Gremium, genannt «GREVIO», erstellt dann einen Bericht und weist auf Lücken hin. Der Bericht für die Schweiz soll im November 2022 erscheinen.
Bis im Juli hat die Schweiz nun Zeit, dem «GREVIO» einen Bericht vorzulegen. Auch Frauen- und Menschenrechtsorganisationen oder das Netzwerk Istanbul Konvention bekommen diese Möglichkeit.
Mit Material der sda.