Schweiz
International

Corona und Krieg: Wie die Schweiz auf die neuen Zeiten vorbereitet ist

Kommentar

Das Ende der alten Gewissheiten – und wie die Schweiz auf die neuen Zeiten vorbereitet ist

Vorbei sind die Zeiten, in denen alles – zum Beispiel Wasser und Strom – jederzeit verfügbar war. Das zeigt sich bei Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Alles ist zerbrechlich geworden.
31.07.2022, 22:31
Othmar von Matt / ch media
Mehr «Schweiz»

Als der ehemalige Armeechef André Blattmann 2014 erzählte, er horte als Notvorrat 300 Liter Mineralwasser, Holz und Konserven, prasselte eine Welle des Spotts auf ihn nieder. «Jetzt ist der Chef der Armee übergeschnappt», schrieb SP-Nationalrat Cédric Wermuth auf Twitter.

Wohin führt der Weg von Helvetia? Der Bundesrat wirkt unentschlossen.
Wohin führt der Weg von Helvetia? Der Bundesrat wirkt unentschlossen.karikatur: silvan wegmann

Acht Jahre später spottet niemand mehr. Coronapandemie und Krieg in der Ukraine haben das Lebensgefühl der Menschen in den westlichen Gesellschaften verändert. Wir erleben gerade das Ende der alten Gewissheiten: Jahrzehntelang hielten wir es für selbstverständlich, dass Wasser, Nahrungsmittel und Strom jederzeit und überall verfügbar sind. Genauso wie Sicherheit, Freiheit und Wohlstand.

Alles ist zerbrechlich geworden

Heute müssen wir zur Kenntnis nehmen: Alles ist zerbrechlich geworden. Das Sicherheitsgefühl hat sich verändert. 2022 scheint es unklarer denn je, ob sich die Schweiz im Ernstfall isoliert verteidigen könnte. Das Land, das seit dem Sonderbundskrieg von 1847 weder in einen Bürger- noch Verteidigungskrieg verwickelt war, diskutiert über eine Annäherung an das westliche Militärbündnis Nato.

Die klassische Neutralität wird überdacht. Im Zentrum steht die Frage: Kann sich ein neutrales Land wirklich heraushalten, wenn ein autoritäres Regime eine Demokratie angreift?

Beinahe hätte der Sturm aufs Kapitol die älteste Demokratie gekippt

Gefährdet ist auch die Freiheit, ein grundlegender Wert im Selbstverständnis westlicher Gesellschaften. Die Coronapandemie hat uns vor Augen geführt, wie schnell sie weg sein kann. Die Ereignisse in den USA sind ein weiteres Warnsignal: Beinahe hätte der Sturm auf das Kapitol die älteste Demokratie der Welt – es gibt sie seit 1776 – gekippt. Und Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriff auf die Demokratien.

Selbst der Wohlstand ist nicht mehr garantiert. Die Inflation ist so hoch wie letztmals in den 1980er-Jahren – in Deutschland bei 7.8 und in der Schweiz bei 3.4 Prozent. Frühindikatoren deuten auf einen globalen Abschwung hin. Das hängt mit dem Schwächeln der drei Volkswirtschaften USA, China und EU zusammen. Es folgten «zunehmend düstere Entwicklungen im Jahr 2022», steht im neusten Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die NZZ schreibt: «Die Party vorbei – jetzt brechen harte Zeiten an.»

Volatilität, Unsicherheit, Komplexität

Diese neuen, harten Zeiten zeichnen sich aus durch Volatilität, Unsicherheit und Komplexität. Das zeigt sich exemplarisch an Wladimir Putins hybridem Krieg: Er geht militärisch gegen die Ukraine vor, verteuert weltweit die Nahrungsmittel und setzt Europa unter Druck, indem er den Gashahn immer stärker zudreht. Dazu kommen Cyberattacken, Lügen- und Desinformationskampagnen. Sie sorgen für Verwirrung.

Putin betreibe damit Macht- und Geopolitik, wolle gemeinsam mit China und Indien ein Gegenmodell zur westlichen Welt schaffen, sagt der Thinktank Swiss Institute for Global Affairs.

Es fehlt ein strategisches Organ, das Bedrohungen antizipiert

Ist die Schweiz auf solch unsichere Zeiten vorbereitet? Nur teilweise. Probleme gibt es in der Früherkennung von Krisen. Das zeigte sich in der Energiekrise und beim Ukraine-Krieg. Die Versorgungssicherheit bei der Energie war schon ein Thema vor dem Krieg. Politik und Wirtschaft schoben sich aber die Verantwortung gegenseitig zu. Und Russlands Invasion in der Ukraine überraschte den Bundesrat: Er hatte weder Vorbereitungen zur Sanktionspolitik getroffen noch zur Rolle der Neutralität.

Der Regierung fehlt ein strategisches Organ, das Bedrohungen in ihrer Gesamtheit antizipiert. Unabhängig davon macht auch der Bundesrat selbst keine gute Figur. Er wirkt zerstritten, mit Intrigen beschäftigt und im Departementsdenken verhaftet. Vor allem nimmt er das EU-Dossier nicht entschieden an die Hand. Das ist strategisch fahrlässig. Gute Beziehungen zur EU sind viel wichtiger geworden, seit sich die Welt geopolitisch in zwei Blöcke spaltet: den demokratischen Westen und sein autokratisches Gegengewicht.

Dennoch ist Optimismus angesagt

Die Schweiz darf trotzdem optimistisch in die Zukunft blicken. Das hat zwei Gründe. Erstens ist die direkte Demokratie ein Erfolgsmodell. Sie hat sich in den letzten 172 Jahren als ausserordentlich zäh und widerstandsfähig erwiesen. Entscheide sind breit abgestützt und werden breit getragen. Obwohl sie Zeit benötigen, lässt das System doch zu, in Krisen und bei Druck von aussen überraschend schnell zu reagieren. Zweitens hat die Bevölkerung in der Pandemie in ihrer überwältigenden Mehrheit bewiesen, dass sie Krise kann.

Klar ist aber auch: Mit einem nach aussen geeinten Bundesrat fiele alles leichter. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
So sieht der neue «McDonald's» in Russland aus
1 / 10
So sieht der neue «McDonald's» in Russland aus
Menschen stehen im ehemaliges McDonald's-Restaurant in Moskau, an, um ihre Bestellung aufzugeben.
quelle: keystone / maxim shipenkov
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Aufräum-Raves in der Ukraine
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
90 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Vision2060
31.07.2022 23:37registriert April 2021
Viele haben noch immer nicht begriffen, das wir für unsere Demokratie kämpfen müssen. Und das wir mit den anderen Demokratie in Europa zusammen halten müssen. Fertig mit Rosinenpickerei. Ich möchte nicht unter Diktaturen wie China oder Russland leben müssen, nur weil paar Milliardäre nicht genug kriegen in der Schweiz. Aufhören, das Volk in sinnloser parteikämpfen aufhetzen. Jetzt sollte ein Miteinander das Wichtigste sein.
14218
Melden
Zum Kommentar
avatar
mattoblue
31.07.2022 23:33registriert November 2019
Die amerikanische Demokratie ist weiterhin durch weisse radikale christlich Fundamentale und Wissenschaftsleugner in akuter Gefahr. Und diese Gefahr ist auch in Europa und in der Schweiz real .
10630
Melden
Zum Kommentar
avatar
Major Tupperware
31.07.2022 23:20registriert November 2019
"«Jetzt ist der Chef der Armee übergeschnappt», schrieb SP-Nationalrat Cédric Wermuth auf Twitter." Hat sich Wermuth eigentlich für seine Aussage bei Blattmann entschuldigt oder immerhin etwas gelernt und einen Notvorrat angelegt?

Leider geht es stramm Links wie Rechts meist nur darum, den politischen Gegner lächerlich zu machen und bei den Wählern mit provokanten Aussagen zu punkten. Probleme zu lösen, hat keine Priorität.
9636
Melden
Zum Kommentar
90
Missbrauchs-Studie hat auch für Reformierte Folgen – so viele Austritte wie noch nie

2023 sind in der Deutschschweiz so viele Menschen aus den reformierten Landeskirchen ausgetreten wie nie zuvor. Die Entwicklung ist gemäss einer Umfrage auch die Folge der Diskussionen um sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche.

Zur Story