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Samstagsmütter: Wie eine Aktivistin aus der Schweiz gegen Erdogan kämpft

Deniz Gülünay, eine aus der Türkei geflüchtete Kurdin, die nach wie vor nach ihrem Vater, Hasan Gülünay, sucht, der 1992 in Polizeigewahrsam verschwand. Ihre Mutter schloss sich als eine der Ersten be ...
Deniz Gülünay hält Bilder von Ihrem Vater in den Händen.Bild: watson/aylin erol

«Wahrscheinlich ist Baba schon nach wenigen Tagen Haft unter Folter gestorben»

1992 verschwand Hasan Gülünay in türkischer Polizeihaft. Das weckte in seiner Tochter, Deniz Gülünay, den Willen, sich ihr Leben lang gegen Ungerechtigkeiten in der Türkei einzusetzen. Auch wenn es bedeutet, dass sie dies nun aus dem Exil im Kanton Luzern tun muss. Das ist ihre Geschichte.
03.12.2023, 05:2531.03.2025, 15:52
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Deniz Gülünay hat nur wenige und verschwommene Erinnerungen an ihren Vater. «Baba» hätte ihr und ihren Geschwistern gerne vorgelesen. Viel gesungen, vor allem politische Lieder. Und er sei häufig ausser Haus gewesen. Alles, was sie sonst von ihm weiss, hat sie durch Erzählungen ihrer Mutter, seiner Freunde, seiner Arbeitskollegen erfahren.

Deniz Gülünay, eine aus der Türkei geflüchtete Kurdin, die nach wie vor nach ihrem Vater, Hasan Gülünay, sucht, der 1992 in Polizeigewahrsam verschwand. Ihre Mutter schloss sich als eine der Ersten be ...
Ein Bild aus einer längst vergangenen Zeit: Hasan Gülünay beim Spielen der Saz.Bild: zvg

Nur eine eigene Erinnerung ist ihr noch sehr präsent: «Ich habe Baba immer gefragt: ‹Gehen wir bald alle zusammen ans Meer?› Und er hat stets geantwortet: ‹Gerne. Ich muss nur zuerst noch die Schlüssel für den Strand holen.› Und ich hab ihm immer geglaubt!» Gülünay lacht auf. Nur kurz. Dann füllen sich ihre Augen mit Tränen.

Denn sie ist nie mit ihrem Vater ans Meer gefahren. Als sie sieben Jahre alt war, verschwand er. Für immer.

«Entschuldige, ich muss kurz auf den Balkon», sagt Gülünay. Sie hastet aus dem Wohnzimmer. Draussen zündet sie sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an. Durch die Glastür hört man kein Schluchzen. Doch man sieht, wie sich ihre Schultern ruckartig bewegen. Nach einigen Minuten kommt sie gefasst, aber mit geröteten Augen zurück und setzt sich wieder an den Esstisch. Vor sich eine bauchige Tasse gefüllt mit Schwarztee und mehrere Schälchen mit Nüssen und Schokolade.

Gülünay hat sich hier, in ihrer 3,5-Zimmer-Wohnung in der Agglomeration der Stadt Luzern, ein kleines Stück Türkei geschaffen. Ein gläsernes Nazar-Amulett, das gegen den bösen Blick schützen soll, hängt über dem Türrahmen. Die bequemen Sofas stehen im Kreis an den Wänden, so wie jede Stube in der Türkei eingerichtet ist. Bereit für viel Besuch.

Vielleicht braucht Gülünay dieses Stück Heimat. Denn zurück kann sie nicht mehr. In der Türkei warten mehrere offene Gerichtsprozesse auf sie. Wegen Beteiligung an Demonstrationen. «Würde ich einreisen, würden sie mich sofort ins Gefängnis werfen», sagt Gülünay. 2017 flüchtete sie darum in die Schweiz.

Inzwischen hat sie geheiratet. Einen Türken, der ebenfalls aus politischen Gründen aus seiner Heimat flüchten musste. 2021 kam ihr erstes Kind zur Welt. Ein Bub. In der Wohnung hängen zwischen den Bildern von Gülünays Vater darum Bilder der jungen, lächelnden Familie.

Deniz Gülünay, eine aus der Türkei geflüchtete Kurdin, die nach wie vor nach ihrem Vater, Hasan Gülünay, sucht, der 1992 in Polizeigewahrsam verschwand. Ihre Mutter schloss sich als eine der Ersten be ...
Links der Vater, rechts die junge Familie.Bild: watson/aylin erol

Gülünay will eigentlich nach vorne schauen. Nur schon ihrem Sohn zuliebe. Sie will besser Deutsch lernen, eine Arbeit finden, Freundschaften schliessen, ein neues Leben hier in der Schweiz aufbauen. Doch gleichzeitig lässt sie die Vergangenheit nicht los. Wie soll man ans Morgen denken, wenn das Gestern noch nicht abgeschlossen ist?

Der Tag, als Baba verschwand

Es ist der 20. Juli 1992, als der 32-jährige Hasan Gülünay, Kurde und Vater von vier Kindern, seine Wohnung in Istanbul verlässt, um zur Arbeit zu gehen. In seinem Büro kommt er nie an. Die türkische Polizei fängt ihn ab und nimmt ihn in Gewahrsam. Womöglich wirft sie ihm Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation vor. Gülünay kann nur mutmassen. Denn bis heute schweigt der türkische Staat zum Verbleib ihres Vaters.

Drei Tage nach Hasan Gülünays Verschwinden klopft es an der Tür der Familie. Es ist die Polizei. Sie nimmt die Mutter, Deniz Gülünay und ihre drei Geschwister – ein-, sechs- und neunjährig – mit aufs Revier.

Auf dem Polizeiposten trennen die Beamten Mutter und Kinder zur Befragung. «Mit Schokolade wollten sie uns dazu bringen, dass wir etwas über Baba verraten», sagt Gülünay. Sie hätten wissen wollen, in welchen Kreisen er verkehrte, welche Veranstaltungen bei ihnen zuhause stattfanden, wollten Namen, Verbrechen hören. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf Gülünays Gesicht aus. «Aber wir haben nichts gesagt. Wir haben die Schokolade nicht angerührt.»

Nach mehreren Stunden der Angst lässt die Polizei die Familie wieder gehen. Sie kehrt zurück in eine völlig zerstörte Wohnung. Während sie befragt worden sind, haben Polizisten jede Schublade, jeden Schrank durchsucht. Kleider, Dokumente, Bilder, Geschirr, alles liegt am Boden.

Die Familie zieht umgehend zur Grossmutter. Sie fühlt sich in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher.

Jede Spur wird verwischt

Wenige Tage später geht am Arbeitsplatz des Vaters ein anonymer Anruf ein. «Hasan Gülünay befindet sich in Untersuchungshaft», sagt der Anrufer. Wo genau, ist unklar. Und so beginnt Gülünays Mutter mit ihrer Suche. «Sie ging jeden Tag mit einem Foto meines Vaters von Polizeistation zu Polizeistation und fragte nach ihm.» Doch die Beamten geben an, Hasan Gülünay noch nie gesehen zu haben.

Also weitet Gülünays Mutter die Suche aus. Sie läuft durch die Strassen Istanbuls, zeigt Passantinnen das Foto ihres Mannes, erzählt seine Geschichte den Medien. Besonders letzteres scheint sich zu lohnen. 55 Tage nach Hasan Gülünays Verschwinden eröffnet sich eine Spur.

Ein Fotograf entdeckt zwischen Müllsäcken die Leiche eines etwa 30-jährigen Mannes. Sein Körper weist deutliche Spuren von Misshandlung auf. Der Fotograf knipst ein Foto des Toten und meldet sich bei der Familie Gülünay, von der er durch die Medien gehört hat. Doch noch bevor Gülünays Mutter den Fotografen besuchen kann, wird dessen Fotostudio komplett zerstört. Das Foto ist weg. Und die Leiche inzwischen bei der Polizei.

Die Mutter versucht, die entsprechende Polizeistation ausfindig zu machen. Sie will die Leiche identifizieren. Doch sie ist zu spät. «Als sie auf dem Posten ankam, sagten ihr die Polizisten, dass eine Familie aus Ankara die Leiche bereits identifiziert und abgeholt habe», sagt Gülünay und schüttelt den Kopf. Sie zweifelt an der Erzählung der Beamten. «Warum sollte man einen Mann aus Ankara in Istanbul finden?»

Doch nach einigen Wochen erneut eine Spur. Ein Mann, der gleichzeitig wie Hasan Gülünay in Untersuchungshaft geraten ist, geht nach seiner Freilassung an die Medien. Er erzählt, dass die Polizei ihn zusammen mit Hasan Gülünay verhört hat. Er habe ihn nicht sehen können, nur gehört, wie er unter Folter gerufen habe:

«Ich bin Hasan Gülünay. Sie versuchen, mich in der Haft verschwinden zu lassen!»

Der Zeuge muss nach dem Erscheinen der Zeitungsartikel untertauchen.

Seither hat die Familie Gülünay nichts mehr über ihren geliebten Baba und Ehemann in Erfahrung bringen können. Auch nicht mit der Hilfe internationaler Menschenrechtsorganisationen. Gülünay sagt:

«Wahrscheinlich ist Baba schon nach wenigen Tagen Haft unter Folter gestorben.»
Deniz Gülünay, Aktivistin

Sie sagt es ruhig, gefasst. Ihre Augen bleiben trocken. Als hätte sie genau diesen Satz schon viel zu häufig sagen müssen.

Die Samstagsmütter: Wenn sich Frauen zusammentun

Hasan Gülünay ist nicht der einzige Mann, der dieses Schicksal ereilte. In den 1980er und 1990er-Jahren nahm die türkische Polizei hunderte Menschen in Gewahrsam. Die meisten von ihnen waren junge Männer und Kurden. Viele verschwanden von einem Tag auf den anderen. Es gab keine Anklagen, keine Prozesse und für ihre Angehörigen auch keine Informationen über ihren Verbleib.

1995 schlossen sich Mütter und Ehefrauen der Verschwundenen darum zusammen und organisierten jeden Samstag eine friedliche Demonstration im Zentrum Istanbuls, auf dem Galatasaray-Platz. In den Händen hielten sie Nelken und die Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen, nach Vorbild der argentinischen Madres de Plaza de Mayo. Sie forderten vom Staat Aufklärung über die Verschwundenen und Konsequenzen für die Täter.

Schon bald waren es nicht mehr nur ein paar Frauen, sondern hunderte Menschen, die sich versammelten. Ihre Protestaktion wurde landesweit unter dem Namen «Cumartesi Anneleri» bekannt. Die Samstagsmütter.

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Hunderte Menschen laufen in der 140. Demonstrationswoche der Samstagsmütter am 24. Januar 1998 durch die Strassen Istanbuls.Bild: EPA

Auch Gülünays Mutter war unter den ersten Samstagsmüttern. An die Demonstrationen nahm sie ihre Kinder häufig mit. «Ich verstand lange nicht, was wir jede Woche dort machten. Ich dachte, wir gehen spielen und freute mich», sagt Gülünay und lacht verhalten. Sie und ihre Geschwister hätten jeweils ihre Spielsachen mitgebracht. Genauso wie die anderen Kinder, deren Väter und Brüder spurlos verschwunden waren.

Erst als die Polizei gewaltsam eine Demonstration der Samstagsmütter auflöste und ihre ganze Familie für kurze Zeit in Gewahrsam nahm, dämmerte Gülünay, was hier vor sich ging. «Ich wurde unglaublich wütend auf den Staat, weil uns weiterhin Ungerechtigkeit widerfährt. Darum schwor ich mir, dass ich mich mein Leben lang für Gerechtigkeit in der Türkei einsetzen werde», sagt Gülünay.

Sie war zehn Jahre alt, als sie sich dieses Versprechen gab. Und sie hielt es.

Deniz Gülünay, eine aus der Türkei geflüchtete Kurdin, die nach wie vor nach ihrem Vater, Hasan Gülünay, sucht, der 1992 in Polizeigewahrsam verschwand. Ihre Mutter schloss sich als eine der Ersten be ...
Ein Foto von Deniz Gülünay (links im weissen Shirt), als sie zusammen mit ihrer Familie als Kind für ihren Vater auf die Strasse ging. Auf ihrem Transparent steht: «Wer schweigt, wenn Folter geschieht, stimmt ihr zu.»Bild: zvg

Im Studium schloss sich Gülünay verschiedenen Vereinen, Frauenbewegungen und sozialistischen Parteien an. Sie organisierte Demonstrationen, die selten eine Bewilligung erhielten, schrieb Artikel für die Parteizeitung, verteilte Flugblätter, kritisierte die Regierung im Internet. Gleichzeitig nahm sie weiterhin regelmässig an den Demonstrationen der Samstagsmütter teil. Zusammen mit der Mutter.

Das tat Gülünay so lange, bis sie das Land 2017 wegen genau dieser Aktionen verlassen musste.

Deniz Gülünay, eine aus der Türkei geflüchtete Kurdin, die nach wie vor nach ihrem Vater, Hasan Gülünay, sucht, der 1992 in Polizeigewahrsam verschwand. Ihre Mutter schloss sich als eine der Ersten be ...
Deniz Gülünay (links) an einer der Demonstrationen. Auf ihrem Schild steht: «Am 20.07.1992 in Gewahrsam verschwunden!»Bild: zvg

Erdogan verbietet Samstagsmütter

2018 hörte auch Gülünays Mutter auf, samstags mit dem Foto ihres Mannes auf den Galatasaray-Platz zu gehen. «Sie ist inzwischen 57 Jahre alt. Sie verkraftet die Demonstrationen emotional nicht mehr», sagt Gülünay. Ohne Leiche, ohne Grab, ohne Informationen des Staates sei es ohnehin schon kaum möglich, mit dem grausamen Tod ihres Ehemanns abzuschliessen. Die Mahnwache reisse alte Wunden immer wieder auf.

Hinzu kämen nun aber auch hängige Gerichtsverfahren gegen ihre Mutter. Denn an ihrer letzten Samstagsmütter-Demonstration wurde sie verhaftet. Dies, nachdem die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan die Kundgebungen der Samstagsmütter 2018 verboten hatte. Die Regierung wirft den Frauen Verbindungen mit der PKK vor, der kurdischen Arbeiterpartei, die im Land als terroristische Organisation gilt.

Seither verhindern die Behörden die Demonstrationen der Samstagsmütter. Die Polizei geht mit Tränengas, Plastikgeschossen, Wasserwerfern und Verhaftungen gegen die teilweise schon 90-jährigen Demonstrantinnen vor. Selbst nachdem das Verfassungsgericht am 23. Februar 2023 geurteilt hatte, dass die Behörden damit das Recht auf friedliche Versammlung verletzen.

Das sagt das Verbot über die Lage in der Türkei aus

Woher kommt dieses plötzliche Verbot der Samstagsmütter? Die heutige Regierung ist schliesslich nicht für das Verschwinden zahlreicher Oppositioneller und Kurden zwischen 1980 und 2000 verantwortlich.

Antworten hat Maurus Reinkowski, Historiker an der Universität Basel mit Schwerpunkt Türkei. Zu watson sagt er: «Die Türkische Republik hat in den 90er-Jahren politisch eine turbulente Zeit durchlaufen, die geprägt war von Gewalt.» Der Militärputsch von 1980 hätte zwar die in den 1970er Jahren grassierende Gewalt, die fast eine Art Bürgerkrieg war, unterdrücken können. Der türkische Staat sei jedoch nicht auf die Herausforderung durch die PKK, die kurdische Arbeiterpartei, vorbereitete gewesen. Diese wollte sich einen unabhängigen Staat für Kurdinnen und Kurden erkämpfen.

Ab den späten 1980er-Jahren befand sich der türkische Staat darum in einem langwierigen bewaffneten Konflikt mit der PKK, der seinen Höhepunkt in den frühen 90er-Jahren erreichte.

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Maurus Reinkowski, Historiker und Professor an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel mit Schwerpunkt Türkei.Bild: zvg

«Als die PKK Erfolge erzielte, reagierte die türkische Regierung mit umfassender Gewalt», fasst es Reinkowski zusammen. Diese geriet ausser Kontrolle. Bald verhaftete die Polizei jeden, den sie als potenzielles PKK-Mitglied vermutete, erzwang unter Folter Geständnisse, tötete dabei zahlreiche Unschuldige.

Das Ergebnis waren tragische Schicksale wie jenes von Hasan Gülünay.

Gemäss Reinkowski haben die wechselnden türkischen Regierungen die Demonstrationen der Samstagsmütter geduldet, weil von ihnen keine Gefahr für die Stabilität des Landes ausging. Und weil sie sich um eine demokratische Fassade gegenüber dem Westen bemühten. Nur so konnten die Samstagsmütter die längste andauernde Bewegung des zivilen Ungehorsams in der Geschichte der Türkei werden.

Warum also liess Präsident Erdogan die friedliche Aktion 2018 verbieten? Ist es ein Zeichen der Schwäche? Fühlt er sich inzwischen sogar von den alten Frauen auf dem Galatasaray-Platz bedroht? «Nein, eher das Gegenteil ist der Fall», sagt Reinkowski. Auf den Putschversuch 2016 habe die Regierung mit einem Gegenputsch reagiert. Zunächst kamen rigorose Verhaftungen von Richtern, Intellektuellen, Journalistinnen, dann die noch stärkere Kontrolle der Medien und die Verfassungsänderung, die das Parlament entmachtete.

Gemäss Reinkowski ist es dadurch zunehmend schwierig bis unmöglich geworden, die Regierung öffentlich zu kritisieren oder gegen sie zu politisieren. Und er fügt an:

«Gleichzeitig kann es Erdogan inzwischen egal sein, ob westliche Staaten ihn für sein autokratisches Regieren kritisieren.»
Maurus Reinkowski, Türkei-Historiker

Er bekomme von ihnen ja trotzdem das, was er wolle. Und sie seien dennoch auf die Türkei angewiesen. Gerade die EU in der Flüchtlingsfrage.

«Dass die Samstagsmütter so viele Jahre, trotz schwieriger politischer Phasen, demonstrieren konnten, nun aber nicht mehr, zeigt nur, mit welch harter Hand Erdogan das Land inzwischen regiert», sagt Reinkowski. Das Verbot ist darum nur eines von vielen Symptomen der Autokratie.

Aktivismus aus der Schweiz

Zurück ins Wohnzimmer von Deniz Gülünay. Inzwischen ist sie älter, als ihr Vater je geworden ist. Sie vermisst ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde. Gleichzeitig muss sie aus der Entfernung zuschauen, wie der Plan Erdogans aufgeht. Wie er im Oktober den 100. Geburtstag der Türkischen Republik und sich selbst feiern lässt, während er das Land immer autokratischer reagiert. Wie sich ihm bald niemand mehr in den Weg stellt. Denn auch sie kann es nicht mehr. Zumindest nicht jeden Samstag auf dem Galatasaray-Platz.

A man walks past billboards displaying Turkish President Recep Tayyip Erdogan and read in Turkish: "For the Turkish century, the right time, the right man" in Istanbul, Turkey, Friday, Nov.  ...
Am 29. Oktober feierte die Türkei ihren 100. Geburtstag. Erdogan liess daraufhin Plakate wie diese im Land aufhängen. Darauf steht: «Für das türkische Jahrhundert, die richtige Zeit, der richtige Mann.»Bild: AP

Gülünays Hoffnung, nach 30 Jahren des Widerstands endlich Antworten auf all ihre Fragen zum Verschwinden ihres Vaters zu erhalten, ist längst zerschlagen. Ihre Geschwister haben sich mit der Situation abgefunden. Ihre Mutter versucht abzuschliessen. Auch ohne Begräbnis. Auch ohne Antworten.

«Ich werde das nie können», sagt Gülünay. Darum setzt sie ihren Kampf in der Schweiz fort. So gut es eben geht. Im September nahm sie etwa an einer Kundgebung in Basel in Solidarität mit den Samstagsmüttern in der Türkei teil, an der die Grüne-Politikerin Sibel Arslan sprach.

Die Aktion war selbst in Schweizer Medien nicht einmal eine Randnotiz wert. Gülünays Aktionismus: ein Tropfen auf den heissen Stein.

Aufgeben kommt für sie trotzdem nicht in Frage. «Es geht mir nicht mehr nur um mich und meinen Vater, es geht mir um alle Menschen in der Türkei. Um Gerechtigkeit für alle.»

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30 Kommentare
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Esther R.
03.12.2023 06:14registriert November 2018
Pfui Teufel dieser Erdogan. Es wundert mich nicht, dass er glühender Bewunderer der Hamas ist. Ich wünsche Deniz Gülünay und ihrer Familie viel Kraft.
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Hosesack
03.12.2023 07:34registriert August 2018
Etwas mehr als die Hälfte der Türken finden Erdogan gut, hat evtl mit seiner Haltung zum Islam zu tun. Der Andere Teil der Bevölkerung leidet.
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Bernhard Kuenzi
03.12.2023 10:04registriert Januar 2014
Erdogan ist ein Diktator und Massenmörder! Trotzdem wird er vom Westen hofiert und seinen Erpressungen wird nachgegeben. Wir werden noch einmal einen hohen Preis Zahlen müssen, solche Despoten müssten isoliert werden, mit Sanktionen überzogen, bis die eigene Bevölkerung dafür sorgt, dass er von der Erde verschwindet. Zum Glück lebt auch ein Sultan nicht ewig, und der wird auch älter...
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