Es war das Aufregerthema in der Sonntagspresse: Die Aargauer SVP-Nationalrätin Martina Bircher regt an, den Schutzstatus S einzuschränken: Man solle darüber nachdenken, ihn nur noch Ukrainerinnen und Ukrainer zu gewähren, die aus Gebieten stammen, in denen Kriegshandlungen stattfinden. Aktuell hat sich der Hauptteil der Kämpfe in den Osten verlagert. Bircher stellt zwar nicht die Hilfe für die Kriegsvertrieben infrage, warnt aber vor «enormen» finanziellen Folgen für die Schweiz für Bund, Kantone und Gemeinden.
Bis im Herbst rechnet der Bund mit bis zu 120'000 Geflüchteten aus der Ukraine. Bis heute haben etwa 50’000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz Schutz gefunden. Sie erhalten den Schutzstatus S. Das bedeutet: Es gibt kein Asylverfahren und die Geflüchteten erhalten schnell Zugang zum Arbeitsmarkt. Der Schutzstatus ist befristet auf ein Jahr, kann aber verlängert und später in eine Aufenthaltsbewilligung umgewandelt werden. Bircher geht davon aus, dass viele Geflüchtete auch nach Kriegsende in der Schweiz bleiben werden.
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Dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) in einzelnen Krisenländern sichere Regionen definiert, wäre kein Novum. Vor der Machtübernahme der Taliban galt in Afghanistan etwa die Stadt Kabul als grundsätzlich sicher, wobei jeder Einzelfall geprüft wurde. Die letzte Rückführung nach Afghanistan erfolgte 2019. Bloss: Um zu eruieren, ob eine Rückführung im Einzelfall zumutbar ist, braucht es vertiefte Abklärungen, sprich ein ordentliches Asylverfahren. Das kommt bei den Geflüchteten aus der Ukraine nicht infrage, sonst würde der Betrieb beim SEM kollabieren.
Birchers Vorschlag scheint - zumindest in der aktuellen Phase – nicht praktikabel. Mitte-Nationalrat Gerhard Pfister taxierte die Idee auch aussenpolitisch als «höchst problematisch». Er sagte gegenüber der «Sonntagszeitung»:
Pfister ergänzte, so fördere man die Teilung der Ukraine. Doch grundsätzlich bleibt die Frage: Kann die Schweiz die Aufnahme von 120'000 Geflüchteten bis im Herbst stemmen? Welche Herausforderungen kommen auf unser Land zu? Das sagen die wichtigsten Akteure.
2015, im Jahr der grossen Migrationswelle nach Westeuropa, stellten hierzulande «nur» knapp 40’000 Menschen ein Asylgesuch. Jetzt rechnet der Bund allein aus der Ukraine mit 120'000 Geflüchteten bis im Herbst. Bis jetzt sind rund die Hälfte der 50'000 Kriegsvertriebenen bei Gastfamilien untergebracht. Aktuell verfügen Kantone und Gemeinden gemäss der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) über mindestens 7600 freie Plätze. Laut der Internetplattform Campax, welche die Angebote von Privaten erfasst, gibt es aktuell 52'865 freie Betten in Gastfamilien.
Die SODK zeigt sich auf Anfrage zuversichtlich, dass auch im Herbst alle Geflüchteten ein Dach über dem Kopf haben werden. Allerdings geht SODK-Präsidentin Nathalie Barthoulot davon aus, dass es längerfristig andere Lösungen brauche, weil die Geflüchteten nicht auf alle Ewigkeit bei den Gastfamilien bleiben werden. Barthoulot sprach gegenüber den Tamedia-Zeitungen von einer Übergangslösung.
Ein Problem auch: Mehrere Kantone signalisieren, dass sie personell langsam an den Anschlag geraten - weil die Betreuung der Geflüchteten eine «Herkulesarbeit» ist, wie SODK-Generalsekretärin Gaby Szöllösy sagt.
In den Gemeinden gebe es «keine grundsätzlichen Kapazitätsprobleme», sagt Christoph Niederberger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands. Er habe keine Kenntnis von Kommunen, die bei der Unterbringung der ukrainischen Flüchtlinge überlastet seien oder an ihre Grenzen stossen würden.
Das dürfte unter anderem mit dem Verteilschlüssel zusammenhängen. Seit Ende April gilt dieser auch für Personen mit Schutzstatus S, sie werden proportional auf die Kantone verteilt. Das begrüsst Niederberger: «So können die geflüchteten Personen besser auf die Gemeinden verteilt werden.»
Dennoch: Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen reagieren erste Gemeinden mit dem Bau von Containersiedlungen, so beispielsweise die Stadt Bern. Für Niederberger sind solche Neubauprojekte «etwas übereilig», wie er sagt:
Als weitere Möglichkeit für die Unterbringung der Flüchtlinge nennt Niederberger Zwischennutzungen: «In einer mir bekannten Gemeinde hatte eine Pensionskasse eigentlich einen Umbau geplant und deswegen das ganze Gebäude geleert. Nun dient dieses zwischenzeitlich als Unterkunft für Personen mit Schutzstatus S. Der Umbau wird verschoben.» Solche Initiativen seien sehr sinnvoll.
Für die Unterbringung und Integration der Geflüchteten zahlt der Bund den Kantonen eine Globalpauschale. Da diese allerdings die Schulkosten nicht deckt, müssen die Gemeinden und Kantone dafür aufkommen. Niederberger ist überzeugt, dass in den kommenden Monaten viele weitere Kosten auf die Gemeinden zukommen werden. Er fordert deshalb, dass «über eine Erhöhung der Integrationspauschale diskutiert wird und die Gemeinden Planungssicherheit haben bezüglich der Dauer des Aufenthalts der Personen mit Schutzstatus S».
Für die Städte sei es «auf jeden Fall eine grosse Herausforderung, die Geflüchteten unterzubringen, vor allem wenn bis im Herbst 80’000 bis 120’000 Personen in die Schweiz kommen werden», sagt Martin Flügel, Direktor des Schweizerischen Städteverbandes. Mittelfristig werde es vor allem für jene Städte, wo der Wohnraum sowieso schon knapp sei, zu einer Herausforderung, den Geflüchteten angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Städte müssen sich deshalb etwas einfallen lassen: In Aarau finden Flüchtlinge in leeren Alterswohnungen ein Zuhause, in Winterthur in Mehrzweckhallen und in Bern - wie bereits erwähnt - in einem Containerdorf.
Dass es Mehrkosten geben wird, sei unbestritten, so Flügel. Doch: «Die Kostenfrage ist momentan nicht prioritär, sondern die Hilfe für die Kriegsflüchtlinge, und wie Bund, Kantone und Gemeinden diese gemeinsam am besten leisten können.»
Schweizweit besuchen rund 11'000 ukrainische Kinder die obligatorische Volksschule. Allein im Kanton Zürich sind es mehr als 2000. Fest steht: Mehr Schülerinnen und Schüler bedeuten auch mehr Klassen, mehr Lektionen, mehr personelle Ressourcen und damit höhere Kosten. Erste Rückmeldungen über die Integration der ukrainischen Kinder fallen positiv aus. «Wir hören von der Basis, dass es gut läuft», sagt Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Die Kinder würden von allen Seiten grosse Solidarität erfahren.
Die Schulen organisieren die Integration unterschiedlich. An Orten mit vielen ukrainischen Kindern werden oft sogenannte Integrationsklassen gebildet. Das bedeutet, dass die Kinder zum Beispiel an einem Halbtag intensiv die Ortssprache lernen und am anderen Halbtag mit Schweizer Kindern turnen, singen, malen. Thomas Minder, Präsident des Schweizerischen Schulleiterverbandes, sagt:
Schwierigkeiten gebe es manchmal bei praktischen Fragen wie: Ist ein Dolmetscher verfügbar, um mit den Eltern zu kommunizieren?
Eine Herausforderung stellt der Lehrermangel dar: Es bestehe generell eine angespannte Situation auf dem Stellenmarkt, teilt das Volksschulamt des Kantons Zürich mit. Das führe für einzelne Gemeinden zu erschwerten Bedingungen . (aargauerzeitung.ch)