Jetzt sitzt er also da, im Hallenstadion mitten in Oerlikon, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und plaudert aus dem Nähkästchen: «Ich bin hinter den Kindern und meiner Frau aktuell der viertbeliebteste Obama – gerade noch so knapp vor dem Hund», gibt er zu bedenken. Knapp 10’000 Besucher lachen herzhaft. Es ist nicht das erste Mal an diesem Abend. Barack Obama hat Zürich im Griff.
Das Feuilleton hatte ihm im Vorfeld zu «An evening with President Barack Obama» den Stempel «Politik-Rockstar» aufgedrückt. Etwas nüchterner hätte man ihn auch den letzten amerikanischen Präsidenten nennen können, der das Gefühl von Souveränität und Sicherheit vermittelte. Wenigstens hier im Westen. In Pakistan, Jemen und Somalia sieht man das vermutlich anders.
Seit Obamas Präsidentschaft ist viel geschehen. Die Welt ist in eine Polykrise geschlittert. Und am Drücker des mächtigsten Landes der Welt war zum einen eine unberechenbare Flitzpiepe und zum anderen ein Methusalem, von dem man einfach nur hofft, dass er beim Herabsteigen einer Treppe nicht vergisst, sich am Handlauf festzuhalten.
«Demokratie in der Krise» ist denn auch eines der Themen des Abends – neben dem Klimawandel, Obamas Leben als Ex-Präsident (ohne Anonymität), seiner Foundation, seinem grössten Sieg (Obamacare) und seiner grössten Niederlage (das Versagen bei den Waffengesetzen). In seiner typischen Art doziert er mit sorgfältig gewählten Worten; nicht von der Kanzel herunter, aber mit väterlicher Leidenschaft. Man merkt ihm das Alter langsam an. Mit 61 Jahren ist er nicht mehr so energetisch wie bei seiner berühmten 17-Minuten-Rede am Parteitag der Demokraten 2004. Dank dieser avancierte er damals schlagartig zum politischen Superstar. Heute spricht er langsamer, angenehm langsam, darf man sagen, und schiebt zum Teil längere Pausen ein: «Das ist ein Zeichen dafür, dass ich zuerst nachdenke, bevor ich spreche», gibt er zu bedenken. «Leider tun das nicht alle Politiker so.» Gelächter. Again.
Eins ist geblieben: Das Publikum frisst ihm noch immer aus der Hand – auch wenn die Anekdoten zu Beginn des Abends ein My zu lange und zu detailliert ausfallen. Das liegt auch daran, dass Moderator Klaas Heufer-Umlauf nie interveniert. Im Vorfeld hatte seine Besetzung für Stirnrunzeln gesorgt. Doch aus der ehemaligen TV-Ulknudel ist ein knallharter Medienprofi geworden, der genau weiss, wo sein Platz ist. Und an diesem Abend ist er bloss Stichwortgeber.
So erfahren die gebannten Zuschauer, dass Obama nach seinem grössten Sieg mit seinem Team ein paar Vodka-Martinis hinunterstürzte – und das, obwohl er während seiner Amtszeit unter der Woche eigentlich abstinent lebte. Sie erfahren, dass künstliche Intelligenz für demokratische Gesellschaften sowohl Fluch als auch Segen sein können, und dass er nach seiner Aktivzeit als Spieler im Politik-Game nun ins Traineramt gewechselt habe. Seine neue Aufgabe sei es, junge aufstrebende «Leader» zu coachen: «Obwohl ich es selbst auch immer noch draufhätte!»
Erneutes Gelächter.
Jetzt hat sich Obama warm geredet. Die Länge der Storys nimmt ab, dafür steigt die Qualität der Pointen. Die Balance zwischen mahnenden Worten (liberale Demokratien befinden sich im Kampf gegen autoritäre Regimes) und Aussicht auf Besserung (Künstliche Intelligenz könnte der Schlüssel im Kampf gegen Krebs sein) stimmt perfekt. Dieser Mann hat das unheimliche Talent, auch noch so verstrickte Problemknäuel als entwirrbar darzustellen. Seine Erkenntnisse sind dabei bei Weitem nicht neu – oder gar überraschend. Aber Worte haben ein anderes Gewicht, wenn sie ein Barack Obama sagt. Denn er sagt sie besonnen, ruhig – und trotzdem sind Feuer und Leidenschaft noch deutlich spürbar.
Der Funke springt nun endgültig über. Natürlich hat Obama Charisma. Aber fast noch wichtiger ist an diesem Abend dieser unglaublich aufbauende Vibe. «Inspiring» – «inspirierend», hört man am Ende in den Gängen des Hallenstadions mehrfach. Das steht so quer zur aktuell dominierenden Tonalität, die von Misstrauen, Provokationen und Schuldzuweisungen geprägt wird. Es tut gut zu wissen, dass auch die andere Seite noch existiert: die selbstironischen und eloquenten, emotional intelligenten und reflektierten Menschen an den Schalthebeln der Macht. Wenn auch nicht als Spieler, dann wenigstens als Coach.
Nur schon diese Erkenntnis dürfte viele Besucher darüber hinwegtrösten, dass sie im Schnitt mehr als hundert Franken für ein Ticket ausgaben. Dafür haben sie den 44. Präsidenten der USA eine Stunde lang live gesehen – und wissen nun ein für alle Mal: Yes, we can!
Wann wohl folgt wieder solch eine Persönlichkeit auf den US-Präsidentensessel.
Nichts solches weit und breit in Sicht, sehr, sehr traurig, ja beängstigend!