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Gruppenvergewaltigung in Italien – deshalb ist Kastration ineffizient

Italian Infrastructure Minister and leader of the Northern League party Matteo Salvini delivers his speech during a rally against fundamentalism, in Milan, Italy, Saturday, Nov. 4, 2023. (AP Photo/Luc ...
Fordert Zwangskastration: der italienische Politiker Matteo Salvini. Bild: keystone

Salvini fordert Kastration von Jugendlichen – Experte warnt davor

Der italienische Lega-Chef Matteo Salvini fordert Zwangskastrationen von Sexualstraftätern. Kriminal-Experte Dirk Baier erklärt, weshalb diese Interventionsmassnahme überschätzt wird.
07.02.2024, 05:0007.02.2024, 10:07
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«Ein kleines Mädchen wird von sieben Ägyptern vergewaltigt. Erzählt mir nichts von Toleranz und Fehlern. Bei diesem Horror sollte man nicht nachsichtig sein, es gibt nur eine Behandlung: Die chemische Kastration», schreibt der Lega-Chef Matteo Salvini auf X.

Grund für den Post ist, dass in der sizilianischen Stadt Catania ein dreizehnjähriges Mädchen vor den Augen ihres Freundes zum Opfer von einer Vergewaltigung durch eine Gruppe Männer und Jungen wurde.

Salvinis Forderung ist kein Novum: Bereits nachdem andere Gruppenvergewaltigungen, etwa eine im August 2023 in Palermo, publik wurden, sprach er sich für ein Gesetz aus, das die chemische Zwangskastration erlaubt. Er will nun, dass die italienische Bevölkerung darüber abstimmt.

Chemische Kastration in der Schweiz erlaubt

Die Schweizer Politik kennt solche Appelle wie jene von Salvini nur allzu gut. Vor elf Jahren postulierte Pierre Rusconi, ein Alt-Nationalrat und SVP-Mitglied, eine Prüfung darüber, ob für Pädophile und Vergewaltiger, die rückfällig geworden sind, die chemische Kastration eingeführt werden soll.

Der Bundesrat argumentierte daraufhin, dass die chemische Kastration von Sexualstraftätern in der Schweiz bereits seit Jahrzehnten angewendet werde. Aber, dass Täter im Wiederholungsfall immer chemisch kastriert werden, will er nicht.

Pierre Rusconi, Praesident der SVP Tessin eroeffnet am Samstag 26. Maerz 2011, die SVP Delegiertenversammlung, im Austellungszentrum von Lugano. (KEYSTONE/Karl Mathis)
Pierre Rusconi war SVP-Nationalrat.Bild: KEYSTONE

Eine chemische Kastration ohne Zustimmung der betroffenen Person sei zwar als medizinische Massnahme möglich, aber diese sei sinnlos oder gar gefährlich. Die Kastration könnte in bestimmten Fällen sogar kontraproduktiv sein, so der Bundesrat.

Diese Argumentation des Bundesrates und die Artikel im Zivilgesetzbuch, auf welche er referenziert, sind heute noch rechtsgültig. Zur Anwendung kommt die chemische Kastration in der Schweiz äusserst selten. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, geht davon aus, dass es in der Schweiz nur eine tiefe zweistellige Zahl solcher Fälle pro Jahr gibt.

Erfolg nicht garantiert

Ziel der chemischen Kastration ist es, den Testosteronspiegel bei Sexualstraftätern auf Kastrationsniveau zu senken. Die Annahme, dass eine solche Senkung des Testosteronspiegels zu einer deutlichen Abnahme oder einem völligen Erlöschen der sexuellen Aktivität, beziehungsweise des sexuellen Erlebens führt, lässt sich jedoch auf der Grundlage verschiedener Studien nicht klar bestätigen.

Zur Person
Dirk Baier leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ZHAW. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Jugend- und Gewaltkriminalität.
Dirk Baier, Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)
Dirk BaierBild: zvg

Denn ein zentrales Motiv der Sexualstraftäter ist nicht nur den sexuellen Trieb zu befriedigen, sondern auch Dominanz und Macht auszuüben, sagt Baier gegenüber watson. Bei Gruppenvergewaltigungen komme dann noch das Motiv hinzu, sich gegenüber den anwesenden Peers als «richtiger Mann» beweisen zu wollen. Baier führt aus:

«Das heisst, da spielt das irgendwie geartete Ausleben eines durch Testosteron simulierten Sexualtriebs keine bedeutsame Rolle. Dass in dieser Art und Weise mit anderen Menschen, meist Frauen, umgegangen wird, ist ein Resultat von problematischen, Gewalt beinhaltenden Erfahrungen in der eigenen Familie.»

Die chemische Kastration sei problematisch, weil sie eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem verspricht: Sexualstraftaten werden verhindert, wenn die Testosteron-Produktion gestoppt, beziehungsweise reduziert wird – so die Annahme. Baier erklärt:

«Menschen werden aber nicht allein aufgrund bestimmter Hormone oder eines hormonellen Ungleichgewichts zu Sexualstraftätern. Die Entwicklung zum Sexualstraftäter vollzieht sich in einem längerfristigen Sozialisationsprozess. Die Persönlichkeit, die sich in diesem Prozess herausbildet, kann dann nicht einfach durch eine medikamentöse Behandlung verändert werden.»

Diese Behandlung werde als Interventionsmassnahme überschätzt; es gebe keine wissenschaftliche, experimentell validierte Belege für die Wirksamkeit dieser Massnahme, so Baier.

Zwangskastration in Polen und Mazedonien

Positive Aspekte einer chemischen Kastration gibt es laut Baier wenige. Weshalb rückt sie dennoch immer wieder in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses? Baiers Antwort: «Politikerinnen und Politiker von meist eher konservativen oder rechten Parteien propagieren diese Interventionsmassnahme, weil sie Sicherheit verspricht. Es ist eine Massnahme, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen eine hohe Zustimmung geniesst und zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beitragen soll.»

Zustimmung geniesst die Zwangskastration etwa in Polen. Dort beschloss der Senat 2009 ein neues Gesetz gegen Sexualstraftäter, die Minderjährige vergewaltigt oder Inzest mit Kindern begangen haben. Die Täter müssen sich seither nach dem Verbüssen ihrer Straftat einer chemischen Zwangskastration unterziehen. Dafür wird ein Medikament angewendet, welches die Hormonproduktion unterdrückt.

In Mazedonien wurde 2014 ebenfalls ein Gesetz verabschiedet, welches es erlaubt, pädosexuelle Wiederholungstäter zu einer chemischen Kastration zu zwingen.

Im kasachischen Parlament wurde am Montag sogar die chirurgische Kastration, also die Entfernung der Genitalien von pädosexuellen Straftätern, diskutiert. Obschon bereits jetzt eine lebenslange Haftstrafe droht für Pädokriminalität in Kasachstan, befürworten einige Abgeordnete eine weitere Verschärfung.

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278 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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moistbuddha
07.02.2024 05:26registriert Februar 2016
Ich kann solche Forderungen (Nutzen hin oder her) aber absolut nachvollziehen. Grauenhaft was dieses Mädchen über sich ergehen lassen musste.
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rodolofo
07.02.2024 05:23registriert Februar 2016
"Experten warnen" ist wohl DER prägende Ausdruck unserer Zeit...
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Müller Lukas
07.02.2024 07:01registriert August 2020
Die chemische Kastratrion sehe ich kritisch - wenn schon, funktioniert wohl nur "the real thing" 🤷‍♂️
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«Wölfe in Siedlungsnähe sind eine Folge der unkontrollierten Abschüsse»
Nach der ersten Wolfsjagd zeigt sich, dass viele der abgeschossenen Tiere gar keine Nutztiere gerissen haben. David Gerke von der Gruppe Wolf Schweiz fordert einen neuen Ansatz.

Herr Gerke, im Winter wurden schweizweit 50 Wölfe geschossen. Was hat die vom Bundesrat Albert Rösti bewilligte Wolfsjagd bewirkt?
David Gerke:
Die Auswirkungen werden wir vollständig erst im kommenden Sommer beurteilen können. Aber wir sehen, dass verschiedene Rudel durch die unkontrollierten Abschüsse destabilisiert wurden und es überhaupt kein gezielter Eingriff war, bei dem die schadstiftenden Tiere entfernt wurden.

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