«Ein kleines Mädchen wird von sieben Ägyptern vergewaltigt. Erzählt mir nichts von Toleranz und Fehlern. Bei diesem Horror sollte man nicht nachsichtig sein, es gibt nur eine Behandlung: Die chemische Kastration», schreibt der Lega-Chef Matteo Salvini auf X.
Grund für den Post ist, dass in der sizilianischen Stadt Catania ein dreizehnjähriges Mädchen vor den Augen ihres Freundes zum Opfer von einer Vergewaltigung durch eine Gruppe Männer und Jungen wurde.
Salvinis Forderung ist kein Novum: Bereits nachdem andere Gruppenvergewaltigungen, etwa eine im August 2023 in Palermo, publik wurden, sprach er sich für ein Gesetz aus, das die chemische Zwangskastration erlaubt. Er will nun, dass die italienische Bevölkerung darüber abstimmt.
Die Schweizer Politik kennt solche Appelle wie jene von Salvini nur allzu gut. Vor elf Jahren postulierte Pierre Rusconi, ein Alt-Nationalrat und SVP-Mitglied, eine Prüfung darüber, ob für Pädophile und Vergewaltiger, die rückfällig geworden sind, die chemische Kastration eingeführt werden soll.
Der Bundesrat argumentierte daraufhin, dass die chemische Kastration von Sexualstraftätern in der Schweiz bereits seit Jahrzehnten angewendet werde. Aber, dass Täter im Wiederholungsfall immer chemisch kastriert werden, will er nicht.
Eine chemische Kastration ohne Zustimmung der betroffenen Person sei zwar als medizinische Massnahme möglich, aber diese sei sinnlos oder gar gefährlich. Die Kastration könnte in bestimmten Fällen sogar kontraproduktiv sein, so der Bundesrat.
Diese Argumentation des Bundesrates und die Artikel im Zivilgesetzbuch, auf welche er referenziert, sind heute noch rechtsgültig. Zur Anwendung kommt die chemische Kastration in der Schweiz äusserst selten. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, geht davon aus, dass es in der Schweiz nur eine tiefe zweistellige Zahl solcher Fälle pro Jahr gibt.
Ziel der chemischen Kastration ist es, den Testosteronspiegel bei Sexualstraftätern auf Kastrationsniveau zu senken. Die Annahme, dass eine solche Senkung des Testosteronspiegels zu einer deutlichen Abnahme oder einem völligen Erlöschen der sexuellen Aktivität, beziehungsweise des sexuellen Erlebens führt, lässt sich jedoch auf der Grundlage verschiedener Studien nicht klar bestätigen.
Denn ein zentrales Motiv der Sexualstraftäter ist nicht nur den sexuellen Trieb zu befriedigen, sondern auch Dominanz und Macht auszuüben, sagt Baier gegenüber watson. Bei Gruppenvergewaltigungen komme dann noch das Motiv hinzu, sich gegenüber den anwesenden Peers als «richtiger Mann» beweisen zu wollen. Baier führt aus:
Die chemische Kastration sei problematisch, weil sie eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem verspricht: Sexualstraftaten werden verhindert, wenn die Testosteron-Produktion gestoppt, beziehungsweise reduziert wird – so die Annahme. Baier erklärt:
Diese Behandlung werde als Interventionsmassnahme überschätzt; es gebe keine wissenschaftliche, experimentell validierte Belege für die Wirksamkeit dieser Massnahme, so Baier.
Positive Aspekte einer chemischen Kastration gibt es laut Baier wenige. Weshalb rückt sie dennoch immer wieder in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses? Baiers Antwort: «Politikerinnen und Politiker von meist eher konservativen oder rechten Parteien propagieren diese Interventionsmassnahme, weil sie Sicherheit verspricht. Es ist eine Massnahme, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen eine hohe Zustimmung geniesst und zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beitragen soll.»
Zustimmung geniesst die Zwangskastration etwa in Polen. Dort beschloss der Senat 2009 ein neues Gesetz gegen Sexualstraftäter, die Minderjährige vergewaltigt oder Inzest mit Kindern begangen haben. Die Täter müssen sich seither nach dem Verbüssen ihrer Straftat einer chemischen Zwangskastration unterziehen. Dafür wird ein Medikament angewendet, welches die Hormonproduktion unterdrückt.
In Mazedonien wurde 2014 ebenfalls ein Gesetz verabschiedet, welches es erlaubt, pädosexuelle Wiederholungstäter zu einer chemischen Kastration zu zwingen.
Im kasachischen Parlament wurde am Montag sogar die chirurgische Kastration, also die Entfernung der Genitalien von pädosexuellen Straftätern, diskutiert. Obschon bereits jetzt eine lebenslange Haftstrafe droht für Pädokriminalität in Kasachstan, befürworten einige Abgeordnete eine weitere Verschärfung.