Unter prominenter Beobachtung: Der Prozess gegen Lukaschenkos Schergen in St.Gallen
Was macht Natallia Hersche vor Gericht?
Das Datum ist ein besonderer Zufall. Am 19. September 2020 wurde die Schweizerin und gebürtige Weissrussin Natallia Hersche in Minsk verhaftet, als sie gegen das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko demonstrierte. 17 Monate sass sie unter prekären Bedingungen im Gefängnis. Dann kam sie nach diplomatischen Verhandlungen des Schweizer Aussendepartements frei.
Drei Jahre später befindet sich Natallia Hersche nun wieder an einem 19. September an einem besonderen Ort: vor Gericht in St. Gallen. Sie beobachtet den Strafprozess gegen Juri Garawski, Ex-Mitglied einer weissrussischen Spezialeinheit, die Oppositionelle verschwinden liess.
Hersche verfolgt die Ereignisse in ihrem Herkunftsland immer noch mit Interesse. Doch im Gerichtssaal wird sie nicht als Aktivistin Platz nehmen, sondern als Gerichtszeichnerin. Im Auftrag von CH Media illustriert sie den Prozessbericht.
Sie hofft, mit dem Zeichnen einen neuen Beruf zu finden. Sie hat Wirtschaft studiert, doch ihre Leidenschaft fand sie dabei nicht. Zuletzt arbeitete sie in einer Fabrik in St.Gallen in der Abteilung für Qualitätssicherung. Doch dieser Job passt nicht mehr zu ihr. «Seit der Zeit in Haft bin ich nicht mehr stressresistent», sagt sie.
Derzeit ist sie arbeitslos. Mittlerweile weiss sie aber, was ihre Leidenschaft ist: das Zeichnen. Sie hofft, dass die Auftragsarbeit für diese Zeitung der Beginn einer neuen Laufbahn ist.
Natallia Hersche ist acht Jahre älter als der angeklagte Juri Garawski. Er erzählte im Interview, wie er zur Spezialeinheit kam. Er sei aufgrund seiner guten Leistungen in der Armee einberufen worden und habe sich nicht viel dabei gedacht. Damals mit 20 Jahren habe er nur das weissrussische System gekannt und keine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit gehabt.
Hersche kann dies nachvollziehen, wenn sie an ihre eigene Jugend denkt. «Ich bin mit einem zu grossen Stolz aufgewachsen», erzählt sie. In der Schule sei ihr eingetrichtert worden, dass sie etwas Besonderes sei, weil sie aus der Sowjetunion stamme. «Wir haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Wir sind die Besten.» So fasst sie das damalige Selbstwertgefühl zusammen.
Mit dieser Perspektive macht sich Hersche ein Bild des Beschuldigten. Sie verurteilt, was er getan hat, interessiert sich aber auch für den Menschen hinter dem Täter.
Worum geht es vor Gericht?
Juri Garawski ist angeklagt wegen Verschwindenlassens. Das ist ein Straftatbestand, der in der Schweiz und auch in Europa noch nie zur Anwendung kam. Er geht auf ein UNO-Abkommen zurück, das eine universelle Strafverfolgung von staatlich organisierten Entführungen durchsetzen will. Täter, die mithalfen, Leute verschwinden zu lassen, sollen sich nirgends verstecken können.
Warum ist das wichtig?
Zum ersten Mal untersucht ein Gericht ein dunkles Kapitel der weissrussischen Geschichte. Die Töchter zweier ermordeten Oppositionellen hoffen, endlich die Wahrheit zu erfahren. Das Verschwindenlassen ist für die Hinterbliebenen besonders belastend, weil sie in der Ungewissheit über die Tat gelassen werden.
Politisch ist der Prozess von Bedeutung, weil damit auch die Verantwortung des Regimes unter Alexander Lukaschenko geklärt wird. Der Diktator sitzt seit 29 Jahren an der Macht und steht derzeit wegen seiner Nähe zu Kriegstreiber Wladimir Putin unter besonderer Beobachtung.
Juristisch ist der Prozess von Bedeutung, weil damit eine Gerichtspraxis zum Tatbestand des Verschwindenlassens erarbeitet wird. Interessanterweise erledigt diese Aufgabe von internationaler Bedeutung ein lokales Gericht, das teilweise aus Laienrichtern besteht: das Kreisgericht Rorschach, das im Exil in St. Gallen tagt.
Politisch brisant bedeutet aber nicht unbedingt juristisch anspruchsvoll. Der Fall eines Hundebisses könne genau so viele rechtliche Fragen aufwerfen, sagt Strafrechtsprofessorin Monika Simmler. Das Gericht muss vor allem klären, ob Garawskis Aussagen glaubwürdig sind.
Wie läuft die Verhandlung ab?
Der Prozess beginnt um 9 Uhr. Der Mittwoch ist als Reservetag eingeplant. Das Urteil wird vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt verkündet. Erwartet werden rund 30 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt.
(aargauerzeitung.ch)
- Verschwundene Peng Shuai scheint vergessen – WTA mit «kompletter Kapitulation» vor China
- Gefangenenaustausch zwischen den USA und dem Iran – Biden bedankt sich für Schweizer Hilfe
- Vermisster Kampfjet: US-Militär findet mutmassliche Trümmer
- 5 Militärbunker, die umfunktioniert wurden
- Biodiversität, PH-Übertritte, Tierwohl: Die heutigen Parlamentsentscheide in 7 Punkten
