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Israel

Die Hungersnot im Gazastreifen trifft Kinder besonders hart

«Welches Verbrechen haben diese Kinder begangen?» – Hungersnot in Gaza spitzt sich zu

Hunderttausende Menschen im Gazastreifen hungern, immer mehr Babys und Kinder sterben an Unterernährung. Ein Blick in den Gazastreifen und den UN-Sicherheitsrat, wo Vertreterinnen und Vertreter vor einer grossen Hungerkatastrophe warnen.
28.02.2024, 18:4928.02.2024, 18:49
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Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober geht Israel mit aller Härte gegen die Hamas im Gazastreifen vor. Seit fast fünf Monaten wird der schmale Küstenstreifen – mit Ausnahme einer kurzen Feuerpause – täglich beschossen.

Dabei sind laut Hamas-Führung bisher fast 30'000 Menschen gestorben. Seit Wochen schleicht sich nun noch ein viel langsamerer Tod heran: der Hungertod.

Babys trifft es am härtesten

Der zwei Monate alte Mahmoud Fattouh liegt blass und reglos in eine Decke eingewickelt, während ein Arzt ihn untersucht. Im Hintergrund ist das Weinen seiner Mutter zu hören. Sie wisse nicht, wohin sie mit ihrem Kind gehen soll. Es gebe kein Essen mehr und ihr Sohn sei so erschöpft.

«Ich habe Angst, dass mein Sohn mich verlässt. Der Junge ist starr. Er ist eiskalt.»
Mahmoud Fattouh
Mahmoud Fattouh ist an Unterernährung gestorben. Er wurde nur zwei Monate alt.Bild: Al Jazeera Screenshot

Die Hilfe kam für den kleinen Mahmoud zu spät. Über den toten Körper gebeugt, wendet sich sein weinender Vater an die Kamera:

«Welches Verbrechen haben diese Kinder begangen? Das ist unmoralisch!»

Babys leiden ganz besonders unter der Hungersnot. Da die Mütter aufgrund des Hungers keine Muttermilch mehr produzieren und es nirgends Muttermilchersatz gibt, können sie ihren Kindern nichts mehr anbieten. So auch Warda Matter, wie sie gegenüber Al Jazeera erzählt. Das Einzige, was ihr übrig bleibt, ist ihrem zwei Monate alten Sohn eine Dattel zum Nuckeln hinzuhalten.

«Ich muss ihm Datteln geben, weil ich keine Milch mehr produziere.»

Zivile Ordnung droht zusammenzubrechen

Im Norden Gazas ist die Lage besonders schlimm. Der einzige geöffnete Grenzübergang im Gazastreifen liegt im Süden und die wenigen Hilfsgüter, die dort über die Grenze gelangen, schaffen es meist nicht bis in den Norden. Die zivile Ordnung droht laut dem UNO-Nothilfebüro OCHA zusammenzubrechen. Wie OCHA-Sprecher Jens Laerke am Dienstag mitteilte, gebe es Hinweise auf «Elemente krimineller Aktivität».

Immer öfter komme es vor, dass Hilfsgüter nur wenige Meter hinter Grenze angehalten und geleert würden. Offenbar gebe es auch Banden, welche die Hilfsgüter an sich rissen, um sie später auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Dort, wo die Hilfsgüter hingelangen, spielen sich dramatische Szenen ab. Ein Video von CNN zeigt, wie verzweifelte Menschen auf dürftigen Flössern ins Meer paddeln, nachdem Hilfsgüter per Flugzeug zu weit vor der Küste abgeworfen worden waren. Diejenigen, die sich eines der kostbaren Pakete ergattern konnten, mussten dieses im entstehenden Handgemenge an Land mit Stöcken und Peitschen verteidigen. Es ist ein Kampf ums Überleben.

Die Verzweiflung und die Wut unter den Menschen im Gazastreifen sei so gross, dass man die Hilfslieferung habe einstellen müssen, verkündete das UN-Welternährungsprogramm am 20. Februar. Dem vorausgegangen war die Plünderung zweier Konvois:

«Am Montag herrschte auf der Fahrt des zweiten Konvois nach Norden aufgrund des Zusammenbruchs der zivilen Ordnung völliges Chaos und Gewalt. Zwischen Chan Junis und Deir al Balah wurden mehrere Lastwagen geplündert, und ein Lastwagenfahrer wurde verprügelt.»

Polizeipräsenz, um die Konvois zu schützen, gibt es im Gazastreifen praktisch keine mehr. Zu gross ist die Gefahr, in der Polizeiuniform und bewaffnet, für einen Hamas-Terroristen gehalten und getötet zu werden.

Ein Grund für den Mangel an Hilfsgütern ist die Blockade von Hilfskonvois – so etwa beim Nitzana-Übergang zwischen Ägypten und Israel. An dieser Stelle werden die Hilfsgüter aus Ägypten kontrolliert, bevor die Lastwagen weiter nach Gaza fahren. Aktivistinnen und Aktivisten verhindern allerdings immer wieder, dass die Lastwagen nach Israel einreisen können. Ganze Familien versammeln sich beim Grenzübergang, wo sie mit ihren Kindern spielen, Zuckerwatte essen und Seifenblasen in die Luft blasen.

«Weltweit schlimmste Unterernährung bei Kindern»

Eine Besserung der Lage ist für die Menschen im Gazastreifen nicht in Sicht. Vertreter der Vereinten Nationen haben im Weltsicherheitsrat vor dem Hungertod Tausender Zivilisten im Gazastreifen gewarnt. 576'000 Menschen in der Region – ein Viertel der Bevölkerung – seien «nur einen Schritt von einer Hungersnot entfernt» sagte Ramesh Rajasingham, ranghoher Vertreter des UN-Nothilfeprogramms Ocha, am Dienstag im mächtigsten UN-Gremium. Er fügt an:

«Experten für Ernährungssicherheit warnen vor einem völligen Zusammenbruch der Landwirtschaft im nördlichen Gazastreifen bis Mai, wenn die Bedingungen anhalten, da Felder und Produktionsmittel beschädigt, zerstört oder unzugänglich sind.»

Maurizio Martina, stellvertretender Direktor der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) führt aus, dass, Stand 15. Februar, 46,2 Prozent aller Anbauflächen im Gazastreifen als beschädigt eingestuft würden. Die landwirtschaftliche Infrastruktur sei verwüstet – insbesondere Schaf- und Milchviehbetriebe hätten grosse Zerstörungen zu verzeichnen.

Am härtesten leiden darunter die Kinder. Carl Skau vom Welternährungsprogramm (WFP) warnt:

«Im Gazastreifen herrscht weltweit die schlimmste Unterernährung bei Kindern.»

Eines von sechs Kindern unter zwei Jahren sei akut mangelernährt.

«Schweigen ist Lizenz zum Töten»

Wie Skau weiter ausführt, liessen die Bedingungen im Gazastreifen humanitäre Lieferungen kaum zu. Helfer würden behindert und Konvois geplündert. Während die Plünderungen den verzweifelten Palästinenserinnen und Palästinensern zuzuschreiben sind, wird Israel im Sicherheitsrat für die Behinderung der Hilfsgüter verantwortlich gemacht.

Bereits vergangene Woche äusserte die medizinische Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen scharfe Kritik an Israel: Das Muster von Angriffen israelischer Streitkräfte auf Krankenhäuser und andere zivile Gebäude sowie auf humanitäres Personal und Konvois sei «entweder vorsätzlich oder ein Zeichen rücksichtsloser Inkompetenz».

Auch der algerische Botschafter Amar Benjama warf Israel am Dienstag vor, den Hunger als Kriegsmittel einzusetzen.

«Der anhaltende Angriff auf Gaza ist kein Krieg gegen die Hamas, sondern eine kollektive Bestrafung der palästinensischen Zivilbevölkerung. Unser Schweigen ist eine Lizenz zum Töten und Aushungern der palästinensischen Bevölkerung. Der Rat muss dringend einen Waffenstillstand fordern, da unsere Untätigkeit einer Mitschuld an diesem Verbrechen gleichkommt.»

Der Vertreter Israels, Brett Jonathan Miller, wollte nichts davon hören. Es gebe keine Grenze für die Menge an Hilfsgütern, die in den Gazastreifen geschickt werden können, betonte er.

Andere Behauptungen vor dem Sicherheitsrat seien bloss ein Versuch, Lügen der Hamas zu verbreiten und von der Unfähigkeit abzulenken, die Hilfe effizient zu verteilen. Er widersprach Aussagen, wonach Israel Lastwagen mit Hilfsgütern vor der Grenze aufhielt. Die Verzögerung bei der Lieferung der Hilfsgüter sei eindeutig die Schuld der UNO. Seine Delegation setze sich weiterhin für die Verbesserung der humanitären Hilfe im Gazastreifen ein, zudem seien weitere Öffnungen der Grenzübergänge im Gespräch, so Miller.

Was tun?

Die Mehrheit der Vertreterinnen und Vertreter im Weltsicherheitsrat sieht nur eine Lösung zur Verbesserung der Lage: ein Waffenstillstand.

Ramesh Rajasingham, der Vertreter von Ocha, rief die gesamte internationale Gemeinschaft zum Handeln auf:

«Die nackte Realität ist jedoch, dass eine Reaktion auf dem erforderlichen Niveau ohne ein sofortiges und konzertiertes Vorgehen der Parteien, des Sicherheitsrats, der anderen Mitgliedstaaten und der gesamten internationalen Gemeinschaft nicht möglich sein wird.»

Zudem sei angesichts der andauernden Feindseligkeiten sowie der drohenden Gefahr, dass sich diese auf die überfüllten Gebiete im Süden des Gazastreifens ausbreiten würden, sehr wenig möglich.

Verhandlungen über eine Waffenruhe laufen zwar, Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu treibt die Bodenoffensive im Gazastreifen dennoch voran und lässt humanitäre Hilfe einschränken. Solange kein Waffenstillstand eintritt, werden die Menschen im Gazastreifen – insbesondere im Norden – weiter hungern müssen.

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270 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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RicoH
28.02.2024 19:30registriert Mai 2019
Man darf und muss Israel für diese Offensive kritisieren.
Die Diskussion muss ausserhalb der antisemitischen Frage geführt werden, denn diese Aktion geht weit über den Schutz Israels hinaus. Es geht um unschuldige Menschen, die getötet werden und seit langem nicht mehr als Kollateralschaden bezeichnet werden können.
Israel muss Einhalt geboten werden!
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Eat.Sleep.Work.Repeat
28.02.2024 22:17registriert März 2022
Wer Hass sät wird Hass ernten.

Israel züchtet hier gerade die neuen Extremisten / Terroristen heran.
Die Überlebenden dieses menschenverachtenden Aushungerns werden wohl nicht Freunde Israels werden.
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Corahund
28.02.2024 19:48registriert März 2014
Es ist einfach grauenhaft. Im Jahr 2024 in Europa. Die Staatengemeinschaft ist gefordert. Beide Seiten dieses
furchtbaren Krieges sind angeklagt. Aber was in GAZA jetzt
abgeht, sprengt alles. Wo sind die Stellungnahmen und Sanktionen? Bei den Russen hat man auch sofort reagiert. Niemand getraut sich, Klartext zu reden oder zu handeln. Die Zahlen der Toten und Verletzten , Soldaten, Zivilpersonen und unschuldigen Kindern sind erschreckend. Und wenn man sich, wie ich jetzt, getraut, etwas zu sagen oder zu schreiben, begibt man sich in Gefahr. Es beelendet mich, ich bin traurig.
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