Wie tief sind Ihre Sorgenfalten angesichts des Gas-Engpasses, der sich für diesen Winter abzeichnet?
Martin Schmid: Die Risiken sind erheblich. Wir tun aber unser Bestes, diese Risiken zu mindern. Und wir haben schon einiges getan, um eine Gasmangellage zu verhindern.
Was hat denn Ihre Gasbranche schon konkret getan? Oder anders gefragt: Wie viel der vom Bundesrat geforderten Speicherkapazität von 6 Terawattstunden haben Sie schon gesichert?
Wir haben derzeit 5.3 Terawattstunden abgesichert. Und wir sind auch daran, die Optionsverträge einzugehen für weitere 6 Terawattstunden, so wie das der Bundesrat von uns verlangt. Die Westschweizer Regionalgesellschaft Gaznat übrigens hat heute schon all ihre Verpflichtungen erfüllt. Das stimmt mich zuversichtlich, dass wir die gesteckten Ziele erreichen könnten.
Drei Terawattstunden waren aber bereits im Mai gesichert, als der Bundesrat den Tarif durchgab.
Der Bundesrat hat das Umsetzungskonzept erst Ende Juni genehmigt.
Er hat im März die Branche zur Gasbeschaffung aufgefordert und hat im Mai die Verordnung und die quantitativen Vorgaben vorgelegt.
Theoretisch hätte die Branche vorher schon Gas beschaffen können, ohne die Rahmenbedingungen zu kennen. Aber es brauchte das besagte Umsetzungskonzept von Ende Juni, um die kartellrechtlichen Bedenken zu beseitigen.
Der Bundesrat hat doch schon im März gesagt, dass sich die Branche wegen des Kartellrechts keine Sorgen machen müsse.
Der Bundesrat hat das gesagt, gleichzeitig hat er aber auch im Mai festgehalten, dass er erwartet, dass das Detailkonzept mit dem Wettbewerbsrecht konform erfolgen soll. Die Wettbewerbskommission als unabhängige Behörde hat sich entsprechend stark in die Erarbeitung der Detailregeln eingebracht. Für die Weko geht das Kartellrecht vor, auch in einer Krise. Und das ist der wirkliche Grund für diese Verzögerungen.
Aber im Kartellrecht gibt es doch den Artikel 8, der besagt, dass der Bundesrat bei «überwiegenden öffentlichen Interessen» Ausnahmen erlassen kann.
Ja, das ist so. Aber dieser Artikel schützt die Branche nicht davor, dass Verfahren eingeleitet werden können, Unternehmen an den Pranger gestellt werden und dann die Verfahren mit viel Aufwand bis zum Schluss durchgezogen würden. Erst nach Aussprache einer Sanktion kommt dieser Artikel zur Anwendung. Das ist und bleibt für die Branche und alle verantwortlichen Personen höchst unbefriedigend.
Hätten die Gasversorger nicht etwas mutiger sein können und sich über die kartellrechtlichen Einwände hinwegsetzen können?
Ja, das hätten sie. Aber schauen Sie in die kurze Vergangenheit: Einige von ihnen wurden in jüngster Zeit mit Millionen gebüsst von der Weko ...
Etwa die Werke Energie Wasser Luzern und der Erdgas Zentralschweiz, die eine Busse von über 2.6 Millionen Franken kassiert haben.
Die Unternehmen wollen Rechtssicherheit. Ihre Geschäftsführer und Verwaltungsräte wollen nicht in irgendwelche Weko-Verfahren verstrickt werden. Wir haben nun mal in der Schweiz kein Gasversorgungsgesetz und folglich auch keinen Gasregulator, der wie in Deutschland das Gas beschaffen kann. Es wäre aber schlicht unmöglich gewesen, die über hundert Schweizer Gaswerke mit der Mission zu beauftragen und zusätzlich noch die Energielieferanten. Deshalb wurden - quasi als Hilfskonstrukt - vom Bundesrat die fünf Regionalverbünde mit der Aufgabe betraut.
Wenn uns also im Winter das Gas ausgeht, dann ist die Weko schuld?
Mich hat das schon massiv geärgert, dass die Weko nicht Hand geboten hat zu einer pragmatischen Lösung. So haben wir wertvolle Zeit verloren, und in der Zwischenzeit sind die Gaspreise nochmals angestiegen. Die Kosten dafür zahlen letztlich die Industrie und die Haushalte.
Gemäss André Dosé, dem Präsidenten des Gasverbunds Mittelland, ist der Bundesrat an allem schuld.
Man hat Zeit verloren, da bin ich mit ihm einig. Aber das Problem war wirklich nicht der Bundesrat, auch mit den involvierten Ämtern haben wir hervorragend zusammengearbeitet - insbesondere mit dem Bundesamt für Energie, das im März sofort die schwierige Lage erkannt und mit der Branche zusammen eine klare Struktur geschaffen hat und später auch mit dem Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung.
Wieso sind eigentlich die Westschweizer bei der Gasbeschaffung mutiger als die Deutschschweizer und die Tessiner?
Das kann ich nicht beantworten. Alle haben eine unterschiedliche Ausgangsposition. Aber ich bin sicher, dass alle fünf Regionalgesellschaften mit Hochdruck daran arbeiten, die gewünschten Gasmengen zu sichern.
Aber die Preise steigen ja schon länger. Schon vor dem Einmarsch in die Ukraine waren die Energiepreise hoch - hätte die Branche nicht früher mit Langfristverträgen vorsorgen sollen?
Das ist letztlich eine unternehmerische Entscheidung, aber ich glaube nicht. Man muss sehen: Diese zusätzlichen Aufwände der Speicherkosten und der Optionsverträge geschehen aus Gründen der Versorgungssicherheit, ausserhalb der ordentlichen Beschaffung. Die Firmen würden dieses Gas jetzt nicht von sich aus in dieser Art beschaffen.
Wie muss man sich diese Reserven-Beschaffung nun vorstellen: Mietet man sich Fläche in einem Speicher, oder kauft man direkt Gas?
Theoretisch gehen natürlich auch die Eigentümer dieser Kapazitäten davon aus, dass ihre Speicher bis Ende Sommer zu 80 oder 90 Prozent voll sind. Unser Job als Gasbranche ist es, dass wir uns über Beschaffungsverträge im Ausland bestmöglich absichern. Die Frage ist dann: Gelangt das Gas anschliessend auch in die Schweiz? Dafür braucht es den Bundesrat, der die entsprechenden Solidaritätsabkommen aushandelt.
Diese Gasspeicher befinden sich ja alle im Ausland. Aber wer schliesst in der jetzigen Situation ein Abkommen ab ohne «Force Majeure»-Klausel, die es den betroffenen Ländern erlaubt, im Ernstfall das Gas für sich zu behalten?
Das ist eine politische Frage. Aber wenn es staatsvertraglich abgesichert ist, dann hat man einen besseren Schutz, als wenn man gar keinen Vertrag mit den Nachbarstaaten eingeht.
Haben Sie Anzeichen, dass die Solidaritätsverträge auf gutem Weg sind?
Ja, ich bin zuversichtlich, weil wir diese Verträge auch brauchen.
Aber schweizerische Gasspeicher wären besser.
Keine Frage, ja. Längerfristig kann diese Frage nur bejaht werden. Man hat es ja versucht, die Gasbranche hatte entsprechende Projekte verfolgt. Aber zusätzliche Speicherkapazitäten bedeuten auch zusätzliche Kosten - zu Gunsten der Versorgungssicherheit. Ohne Regel, wer diese tragen soll, werden keine Speicher erstellt. Dazu kommen ökologische Bedenken.
André Dosé forderte auch Staatsgarantien für den Gaseinkauf. Braucht nach der Strombranche nun auch die Gasbranche einen Rettungsschirm?
Nein, die Ausgangslage ist anders als beim Strom, wo Langfristverträge mit Liquidität unterlegt werden müssen. Gleichzeitig können in der Schweiz die Gasversorger auch unter dem Jahr die Preise anpassen, was in Deutschland in normalen Zeiten nicht möglich ist. Die Gasbranche beschafft nun kurzfristig im Auftrag des Bundes Ressourcen für den Winter. Für diese Vorschüsse sind wir nicht vorbereitet. Gleichzeitig sind die Aktionäre der Gasdienstleister die Städte und Gemeinden, also die öffentliche Hand. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Geld bereitsteht und die Städte Garantien geben. Es wird wohl keinen flächendeckenden Rettungsschirm brauchen, weil die allermeisten Gasunternehmen sowie ihre Aktionäre finanziell sehr gesund sind. Eine andere Situation tritt ein, wenn in einer Notsituation Verträge gebrochen werden - beispielsweise mit Deutschland - oder sich dort gesetzliche Rahmenbedingungen ändern. Dann kann ich es nicht ausschliessen.
Die Preise sind im Moment sehr volatil, dennoch: Wie viel kostet diese Vorsorge?
Ich habe die Zusatzkosten noch Ende Juni mit 500 bis 800 Millionen Franken beziffert. Heute gehe ich davon aus, dass das nicht reichen wird.
Viele Augen richten sich derzeit auf Zug, wo die Firma Nord Stream domiziliert ist, welche die Pipeline nach Russland betreibt. Stehen Sie mit den Verantwortlichen in Kontakt?
Nein. Die Schweiz beschafft nicht direkt russisches Gas, wir beschaffen unser Gas an den Handelsplätzen der Nachbarländer.
Aktuell fliesst kein Gas von Russland nach Europa, die Pipeline befindet sich bis 21. Juli in Wartungsarbeiten. Sind Sie optimistisch, dass danach wieder «courant normal» herrscht?
Wir denken immer in Szenarien. Und es ist ein absolut realistisches Szenario, dass Nord Stream nicht wieder in Betrieb geht.
Und dann wird das Gas knapp. Mit welchen Folgen?
Im Sommer müssen die Speicher gefüllt werden für den Winter. Das könnte dies schwieriger machen, und damit bestünden weniger Reserven, falls ein Engpass eintritt. Für den Fall, dass eine Gasmangellage eintritt, kann der Bund hoheitlich Massnahmen anordnen. Es kann durchaus Sparappelle geben, die Notfallpläne werden erarbeitet. Aber letztlich ist es eine politische Frage, wo es zuerst Rationierungen geben soll - bei den Haushalten, der Industrie oder den Dienstleistungen. Eine ganz entscheidende Frage wird sein, wie sich die Stromproduktion in Europa entwickelt. Andere Länder brauchen das Gas für die Verstromung, diese beiden Ressourcen hängen eng zusammen. Ohne Gas ist wiederum auch die Stromversorgung gefährdet. (bzbasel.ch)
Keiner dieser Lappen mag zugeben, dass fast jede Branche aus Profitgründen möglichst viel auf Kante näht…