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Atommüll-Tiefenlager im Zürcher Unterland: Kritik am Nagra-Entscheid

Das Haberstal, Ortsteil Windlach, Gemeinde Stadel ZH. Hier will die Nagra das Atommüll-Tiefenlager bauen.
Das Haberstal, Ortsteil Windlach, Gemeinde Stadel ZH. Hier will die Nagra das Atommüll-Tiefenlager bauen – mit Oberflächenanlage in der Anflugschneise für den Zürcher Flughafen.Bild: watson
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Atommüll-Experte zum Tiefenlager-Entscheid: «Der Auswahlprozess ist kontaminiert»

Der Standortentscheid der Nagra ist noch vor der öffentlichen Bekanntgabe durchgesickert. Der Geologe und Entsorgungsexperte Marcos Buser nimmt Stellung und warnt vor weiteren kostspieligen Fehlern.
10.09.2022, 13:2510.09.2022, 15:26
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Noch hält sich die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) offiziell bedeckt, doch am Montag wird sie nur noch bestätigen, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen: Das Atommüll-Tiefenlager soll im Grenzgebiet zwischen dem Zürcher Unterland und dem Aargau gebaut werden. Das ist der Standort Nördlich Lägern.

Der «Tages-Anzeiger» machte am Samstag publik, dass die Grundstücksbesitzer am Vormittag von der Nagra über das Tiefenlager in ihrer Region informiert worden seien.

Eine Sprecherin des Bundesamtes für Energie (BFE) hat gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA bestätigt, dass sich die Nagra für Nördlich Lägern als Standort für das Tiefenlager entschieden habe. Die Brennelement-Verpackungsanlage («heisse Zelle») werde beim Zentralen Zwischenlager in Würenlingen AG gebaut, sagte sie weiter.

Es geht um radioaktiven Sondermüll, der – in spezielle Container verpackt – zehntausende Jahre weiter strahlen wird und ein grosses Risiko für die Umwelt darstellt.

Der unabhängige Schweizer Tiefenlager-Experte und erfahrene Geologe Marcos Buser ordnet den Entscheid ein und erklärt, wie die Verantwortlichen das bei der Bevölkerung verlorene Vertrauen zurückgewinnen könnten.

Das Interview

Herr Buser, was halten Sie vom Standort-Entscheid der Nagra?
Marcos Buser: Es ist ein äusserst schwieriger Entscheid, der in einen widersprüchlich geführten Prozess eingebunden ist. Über Jahrzehnte fokussierte die Nagra auf den Standort Zürcher Weinland. Man erinnere sich insbesondere an den 2002 eingereichten Entsorgungsnachweis für hochaktive Abfälle der Nagra und ihren Antrag zuhanden des Bundes, das Weinland als Endlagerstandort vorzuziehen.

Nun soll also – für viele überraschend – der Atommüll im Zürcher Unterland begraben werden.
Dass ein Standort, der über Jahrzehnte als Reservestandort galt und der gegen den Willen der Nagra wieder in das Auswahlverfahren aufgenommen werden musste, nun plötzlich der allerbeste Standort sein soll, ist nicht nur merkwürdig, sondern vor allem besorgniserregend. Offenbar hat die Nagra über Jahrzehnte an der Sicherheit vorbeigeforscht und die Behörden hatten dabei über Jahrzehnte keine Einwände! Und wer sagt in diesem Fall, dass dies nicht so weitergehen wird? Dass wiederum Fehler begangen werden, die niemand merkt oder merken will? Dies ist der Grund, weshalb das Verfahren jetzt in unabhängiger Art und Weise untersucht werden müsste. Der Auswahlprozess ist kontaminiert. Es muss jetzt Klarheit geschaffen werden, ob nicht bewusst gemogelt wurde.

«Es gibt kaum mehr ein Zurück, wenn der Entscheid vom Bundesrat abgesegnet wird.»

Wie beurteilen Sie die Vorgeschichte?
Dem heutigen Entscheid gingen unschöne Vorkommnisse voraus, die in einem fairen Verfahren nichts zu suchen haben. Die berühmte Aktennotiz der Nagra von 2011 mit der Bestätigung des Weinlands als Endlagerstandort; der Einengungsentscheid von 2015, bei dem wiederum das Weinland im Vordergrund stand; und das darauffolgende Hin und Her zwischen kantonalen Behörden, Bundesbehörden und Nagra, welche schliesslich mit der Wiederaufnahme des Standorts Nördlich Lägern in das Auswahlverfahren endete.

Zürcher Unterland statt Weinland
Marcos Buser hat folgende Erklärung, warum die Nagra vom Zürcher Weinland (offizielle Bezeichnung: Zürich Nordost) auf die Region Nördlich Lägern umgeschwenkt ist. Er sagt: «Es wurden zwei Kriterien neu gewichtet: Erstens die Tiefenerosion, die im Weinland ungenügend abgeklärt worden war, und sich nun als der Pferdefuss für diesen Standort herausstellt, währenddem Nördlich Lägern nicht tangiert ist. Zweitens die Lagertiefe, ein kritisches Kriterium für Nördlich Lägern, das mit einer neuen Expertise über die Bautechnik aber ‹ausgeräumt› wurde.»

So sei eine neue Gewichtung zustande gekommen, erklärt der Nagra-Kritiker gegenüber watson. Und die Umdeutung und Neubewertung der zwei Kriterien habe den Standort Nördlich Lägern in den Vordergrund gebracht. «Aber auch andere Kriterien könnten anders gewichtet werden, mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Der Entscheidungsprozess wurde nie sauber definiert.»

Nördlich Lägern ist die Region, in der seitens der Bevölkerung der Widerstand am geringsten war. Hat das den Entscheid beeinflusst?
Das mag intern diskutiert worden sein, aber wenn auch, es war sicher nicht ein wesentlicher Grund für die Auswahl. Es gibt gewichtigere Argumente, die von Nagra und Behörden für Nördlich Lägern vorgetragen werden.

«Ich kann den betroffenen Menschen nur empfehlen, eine Überprüfung des Auswahl-Prozesses einzufordern.»

Was erachten Sie als die grössten Risiken bei der Standortwahl?
Ein fehlerhaftes Konzept und darauf beruhend eine fehlerhafte Planung. Es gibt kaum mehr ein Zurück, wenn der Entscheid vom Bundesrat abgesegnet wird. Wir haben viele Beispiele im Bereich der nuklearen Entsorgung, bei der Fehler gemacht wurden. Sie führten eins ums andere Mal zur Aufgabe der Projekte. Eine Aufarbeitung der strategischen und inhaltlichen Fehler fand nie statt, zumindest nicht öffentlich. Dieses fehleranfällige System muss verändert werden. Die Verantwortungen müssen überprüft und anders geregelt werden.

So könnte die Oberflächenanlage für das Atommüll-Tiefenlager gemäss Visualisierung der Nagra aussehen.
So würde die Oberflächenanlage für das Atommüll-Tiefenlager gemäss Visualisierung der Nagra aussehen.quelle: Nagra

Die restliche Schweiz ist froh, wenn der Atommüll nicht bei ihr im Garten begraben wird. Wie beurteilen Sie diese Haltung?
Es ist das altbekannte Phänomen des NIMBY – nicht in meinem eigenen Hintergarten («Not In My Backyard»). Natürlich ist das eine egoistische Haltung. Man muss aber gleichzeitig Verständnis für diese Haltung aufbringen: Es wurden derart viele Atommüll- und Deponieprojekte an die Wand gefahren, derart viele Versprechungen von Behörden und Planern nicht eingehalten, dass diese Skepsis berechtigt ist. Die Liste ist lang: Felsenau, Val Canaria, Ollon, Piz Pian Gran, Wellenberg etc. in der Schweiz und viele mehr im Ausland. Bei den Sondermülldeponien: Bonfol, Kölliken, Gamsenried, Feldreben usw. Da muss man sich nicht wundern, dass das Vertrauen verspielt wurde und die Leute misstrauisch sind. Darum muss man Kompetenz bei Planern und Überwachungsbehörden einfordern, und eine scharfe Kontrolle. In beiden Bereichen gibt es sehr viel Luft nach oben.

Was würden Sie der direkt betroffenen Bevölkerung raten?
Ich kann den betroffenen Menschen nur empfehlen, eine Überprüfung des Auswahl-Prozesses einzufordern, und zwar von einer Kommission von unabhängigen, kompetenten und als integer bekannten Personen, die nicht von einem direkt involvierten Handlungsträger beauftragt würden. Eine Art Bergier-Kommission, wie für die Aufarbeitung der nachrichtenlosen Vermögen, vom Bundesrat bestellt. Nicht von den Ämtern selber, die in diese Prozesse eingebunden sind. Diese Kommission sollte den gesamten Standortauswahl-Prozess beleuchten und die Schwachstellen und Fehler im Prozess analysieren. Eine Art der nachgelagerten Fehlerkultur.

Welche Bedenken hat der Tiefenlager-Kenner?

Zur Person
Marcos Buser, Jahrgang 1949, ist Geologe und Sozialwissenschaftler und seit über 40 Jahren auf dem Gebiet der Atomenergie und der chemotoxischen Sonderabfallentsorgung tätig. Mit zwei anderen unabhängigen Schweizer Endlager-Experten, ebenfalls Geologen, hat er die Website nuclearwaste.info ins Leben gerufen, um sich kritisch mit den Endlager-Plänen auseinanderzusetzen.

Buser war unter anderem Mitglied der Expertenkommission für das Schweizer Endlagerprojekt und der Eidgenössischen Kommission für nukleare Sicherheit (KNS), bevor er aus Protest zurücktrat.

In seinem Buch «Wohin mit dem Atommüll?» (2019 erschienen) schildert er die Mechanismen der Atompolitik, die Einflussnahme der Industrie – und den fragwürdigen Umgang mit Kritik und Warnungen.

Der angekündigte watson-Beitrag mit den wichtigsten Fragen rund um das geplante Tiefenlager, zu Sicherheitsaspekten und der Eignung des geologischen Untergrundes, folgt zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Nagra-Entscheid offiziell ist.

Und jetzt du!

Was soll mit dem hochradioaktiven Schweizer Atommüll geschehen? ☢️

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Quellen

Disclaimer
watson-Redaktor Daniel Schurter lebt in einer der drei Nordostschweizer Regionen, die laut Nagra für ein Atommüll-Endlager geeignet sein sollen. Er hat sich vor fünf Jahren in einem Meinungsbeitrag kritisch geäussert zu dem Vorhaben (siehe verlinkter Artikel unten). Und er räumt ein, so wie die meisten Schweizerinnen und Schweizer vom NIMBY-Syndrom betroffen zu sein.
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67 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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WatSohn?
10.09.2022 14:00registriert Juni 2020
Ist es Zufall, dass ausgerechnet jetzt, da gewisse Kreise wieder lautstark neue Atomkraftwerke fordern, eine Lösung für ein Problem präsentiert wird, das jahrzehntelang nicht gelöst werden konnte und vielleicht auch nie wirklich gelöst werden kann?
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stormcloud
10.09.2022 13:36registriert Juni 2021
Das Problem der Radioaktivität. Populisten rufen laut nach neuen Kernkraftwerken und tun so, als wäre das die Rettung vor all unseren Energieproblem.
Doch wohin mit dem strahlenden Abfall? Dafür haben sie keine Lösung parat.
Jedenfalls mag niemand dieses Zeug auch nur in seiner Nähe haben. Zudem ist es eine Last für viele Generationen und bislang hat man kein dauerhaft sicheres Endlager gefunden.
Sieht man sich die Lagerstätte "Asse" in Deutschland an, dann versteht man das Problem. Hier wurden Fässer nicht gestapelt, sondern einfach abgekippt und mit anderem Abfall der Chemie vermischt 💣☢️
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HugiHans
10.09.2022 13:48registriert Juli 2018
Also ob es eine Rolle spielt, ob das Lager nun vor der eigenen Haustüre oder 100 km entfernt angelegt wird. Das einzige Kriterium darf die Sicherheit sein, und da scheinen mir viele Fragen offen zu bleiben. Obwohl dies für den geplanten Zeitraum wohl sowieso nicht garantiert werden kann …
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