Schweiz
Interview

Nach Vergewaltigung: Strafrechtsexpertin fordert Anpassung des Gesetzes

häusliche gewalt, haeusliche gewalt, domestic violence, gewalt gegen frauen, missbrauch, vergewaltigung
bild: shutterstock
Interview

«Sich bei einer Vergewaltigung feige aus dem Staub machen ist leider nicht strafbar»

Ein Bundesgerichtsurteil schlägt hohe Wellen: Wer eine Vergewaltigung mitkriegt, ist rechtlich nicht zum Eingreifen verpflichtet. Strafrechtsexpertin Anna Coninx sieht darin einen Fehler im System.
02.11.2021, 10:3402.11.2021, 13:16
Dennis Frasch
Mehr «Schweiz»

Der Artikel sorgte für viel Wirbel auf watson: Das Bundesgericht hat einen jungen Mann freigesprochen, der es zuliess, dass eine Frau vergewaltigt wurde. Die Frau lernte er am selben Abend kennen und nahm sie mit zu sich nach Hause in die Asylunterkunft. Nachdem sie ihn oral befriedigt hatte, kam der Grosscousin ins Zimmer und vergewaltigte sie. Der Angeklagte entfernte sich zuvor aus dem Zimmer und liess den Täter gewähren.

Die ersten Instanzen verurteilten den Angeklagten wegen Mittäterschaft, doch das höchste Gericht in Lausanne sah es anders: Es sprach ihn vom Vorwurf der Mittäterschaft frei, weil dafür ein aktives Verhalten nötig wäre. Der Mittäter einer Vergewaltigung müsste zum Beispiel während der Tat anwesend sein und den Haupttäter unterstützen. Das Verhalten des Angeklagten war also moralisch höchst verwerflich, strafrechtlich jedoch belanglos.

Wie kann das sein? Gibt es hier eine Gesetzeslücke? watson hat mit Strafrechtsexpertin Anna Coninx über diesen Fall gesprochen.

Frau Coninx, können Sie das Urteil des Bundesgerichts nachvollziehen?
Anna Coninx:
Ja. Sich feige aus dem Staub machen ist keine mittäterschaftliche Vergewaltigung im strafrechtlichen Sinn, auch wenn wir das so wahrnehmen mögen. Wir machen dem Beschuldigten folgenden Vorwurf: Weshalb bist du nicht eingeschritten, weshalb hast du dich nicht schützend vor das wehrlose Opfer gestellt, obwohl du gewusst hast, dass die Frau von einem anderen höchstwahrscheinlich vergewaltigt wird und sie dich angefleht hat, ihr zu helfen?

Genau. Sollte ein solches Verhalten nicht bestraft werden?
Meiner Meinung nach schon. Das ist allerdings nach geltendem Recht nicht möglich. Der Beschuldigte hat sich auf den Standpunkt gestellt, was zwei Erwachsene in dem Zimmer machen, gehe ihn nichts an. Das ist meines Erachtens eine sehr verwerfliche Haltung, momentan aber nicht strafbar.

«Man kann das fraglos unanständig und machoid finden, aber Leute aufzufordern, Sex zu haben, ist nun mal kein strafrechtliches Verhalten.»

Ich verstehe das nicht. Das Bundesgericht argumentiert, dass keine aktive Mittäterschaft vorliegt, weil sich der Angeklagte nur vom Tatort entfernt hat (passiv). Aber er war es ja, der den Vergewaltiger erst ins Zimmer führte. Wieso zählt das nicht als Mittäterschaft?
Man muss hier – bei aller Verwerflichkeit des Geschehens insgesamt – präzise bleiben. Der Beschuldigte hat den Cousin nicht aufgefordert, die Frau zu vergewaltigen, sondern die Frau aufgefordert, den Cousin oral zu befriedigen. Das kann man fraglos unanständig und machoid finden, aber Leute aufzufordern, Sex zu haben, ist nun mal kein strafrechtliches Verhalten.

Wo liegt denn die Trennlinie zwischen verwerflichem Verhalten und Mittäterschaft?
Strafrechtlich relevant wird es, wenn deutlich wird, dass die Frau den Sex nicht wollte, und offensichtlich sehr verängstigt war. Eine Mittäterschaft würde dann aber voraussetzen, dass die Männer gemeinsam beschliessen, dass sie die Frau vergewaltigen. Dafür müssen beide einen kausalen Tatbeitrag leisten. Das Bundesgericht hat hier meines Erachtens zu Recht geurteilt, dass dies nicht der Fall war. Bleibt es bei rein passivem Verhalten, weil der Beschuldigte der Frau nicht hilft bzw. einfach wegschaut, reicht das nicht für eine mittäterschaftliche Vergewaltigung.

anna coninx
Anna Coninx ist Assistenzprofessorin für Strafrecht an der Universität Luzern.Bild: pd

Wäre auch so entschieden worden, wenn es sich beispielsweise um ein Tötungsdelikt gehandelt hätte?
Nein. Bei einem Tötungsdelikt wäre der Beschuldigte verpflichtet gewesen, einzuschreiten oder zumindest die Polizei zu benachrichtigen, wenn es ihm nicht zumutbar gewesen wäre, einzuschreiten.

«Warum soll man nur dann helfen müssen, wenn die Person in unmittelbarer Lebensgefahr ist?»

Das Unterlassen der Nothilfe gilt also nur in lebensbedrohlichen Situationen.
Richtig. So sagt es klarerweise das Gesetz und das Bundesgericht ist selbstverständlich daran gebunden. Gesetze können aber auch geändert werden.

Sollte das Gesetz geändert werden?
Ich sehe nicht ein, weshalb man im Nebenzimmer sein kann, wissend, dass jemand vergewaltigt wird, und straflos bleibt, wenn man nichts dagegen unternimmt. Dies, obwohl einem das zumutbar ist. Warum soll man nur dann helfen müssen, wenn die Person in unmittelbarer Lebensgefahr ist?

Also sollte es geändert werden.
Es gibt andere, ähnliche Fälle, wo jemand wusste, dass im Nebenzimmer eine andere Person vergewaltigt wird und nicht eingeschritten ist. Das Problem ist immer, dass passives Verhalten nur dann strafbar ist, wenn derjenige, der passiv bleibt, besonders verpflichtet gewesen wäre, einzugreifen. Also zum Beispiel Eltern gegenüber ihren Kindern oder Ehepartner untereinander. Diese Gesetzeslage ist meines Erachtens unbefriedigend.

Wie hoch stehen die Chancen, dass eine Gesetzesänderung bald passiert? Die Revision des Strafgesetzbuches ist ja bereits in vollem Gange.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine Änderung von Art. 128 StGB diskutiert wird. Es ist an der Politik, diesen Ball aufzunehmen.

Frau Coninx, letzte Frage: Das BGE ist in letzter Zeit eher damit aufgefallen, einen härteren Umgang bei Sexualdelikten an den Tag zu legen. Nun jetzt dieses Urteil. Welche Signale sendet so etwas aus?
Das Bundesgericht versucht in jüngerer Zeit im Rahmen des gesetzlich Möglichen von einem anachronistischen Sexualstrafrecht wegzukommen. Das ist sehr lobenswert. Im vorliegenden Fall geht es aber um eine andere Frage. Nämlich, ob wir jemanden bestrafen, der einem wehrlosen Opfer nicht hilft, obwohl er weiss, dass jemand in grosser Not ist. Es sendet dahingehend ein falsches Signal, dass wir mitmenschliche Solidarität nicht ernst nehmen. Letztlich ist dies aber ein Mangel in der Gesetzgebung und nicht ein Fehler der Rechtsprechung. Daher sollte das Gesetz geändert werden.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Sexismus in den Medien
1 / 11
Sexismus in den Medien
quelle: shutterstock / screenshot blick / bearbeitung watson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Es braucht ein neues Vergewaltigungsgesetz» – so sieht der Vorschlag aus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
104 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
du_bist_du
02.11.2021 11:14registriert Mai 2020
Dementsprechend muss man ja eigentlich bei praktisch nichts einschreiten und z.B. die Polizei alarmieren. Man kann vieles so auslegen, dass es nicht als Delikt erscheint. Wurde uns in der Schule damals und im Rahmen der Diskussionen um Zivilcourage in den Medien, in den letzten Jahren, anders beigebracht aber interessant...
578
Melden
Zum Kommentar
avatar
Maurmer
02.11.2021 11:45registriert Juni 2021
Die Situation zeigt nur, dass Recht und Gerecht nun mal zwei verschiedene Dinge sind. Es ist Aufgabe der Legislative diese in Einklang zu bringen und nicht die eines Gerichtes, das sich an Recht zu halten hat.
Man hat sich bei der Gesetzgebung zu unterlassener Nothilfe aber auch nicht ohne Grund auf lebensbedrohliche Situationen fokussiert und eine Gesetzesänderung benötigt eine fundierte Abwägung um das nicht zu verschlimmbessern.
373
Melden
Zum Kommentar
avatar
Zanzibar
02.11.2021 10:52registriert Dezember 2015
Das Gesetz muss geändert werden. Das geht meiner Meinung über Zivilcourage hinaus. Ich hätte behauptet dass es sich hier um unterlassene Hilfe handelt.
2112
Melden
Zum Kommentar
104
Das sind aktuell die 10 beliebtesten Elektroautos
Ein E-Auto von Skoda verkauft sich in der Schweiz derzeit besonders gut. Über das ganze Jahr hat aber ein Modell von Tesla die Nase vorn. Nicht in Fahrt kommen bei uns die chinesischen Autobauer.

Im November wurden in der Schweiz 4143 Elektroautos neu zugelassen. «Stromer» machen 21,1 Prozent des Marktes aus und damit geringfügig weniger als vor einem Jahr mit 21,6 Prozent.

Im gesamten Jahresverlauf ist Teslas Model Y das mit grossem Abstand meistverkaufte Elektroauto zwischen Romanshorn und Genf. Im November aber grüsst ein anderes E-Auto von der Spitze: Skodas Elektro-SUV Enyaq holt sich in der Monatsrangliste die Spitzenposition, knapp vor dem Model Y und Audis Q4.

Zur Story