Es war ein hauchdünner Entscheid: Mit 50.8 Prozent Nein-Stimmen lehnte die Stimmbevölkerung 2016 die Heiratsstrafe-Initiative der CVP ab. Jetzt annullierte das Bundesgericht diese Abstimmung – weil im Abstimmungsbüchlein eine falsche Zahl aufgeführt war. Staatsrechtler Rainer J. Schweizer erklärt, was die Folgen dieses Entscheids sind.
Herr Schweizer, das Bundesgericht hat die Abstimmung zur Heiratsstrafe annulliert. Sind Sie überrascht?
Rainer J. Schweizer: Ja, das ist ein historischer Entscheid. Das Bundesgericht hat seit 1848 nie einen Abstimmungsentscheid des Bundes rückgängig gemacht. Man konnte das so auch nicht erwarteten, das Bundesgericht hat in den letzten Jahren eher regierungsfreundlich entschieden. Es zeigte sich einmal mehr: Das Gericht kann manchmal sehr unberechenbar sein.
Und ist der Entscheid inhaltlich korrekt?
Ich kenne die Begründung des Bundesgerichts nicht im Detail, aber man hatte bei der Heiratsstrafe keine internationalen Verträge oder Bestimmungen mit dem Ausland, die hier tangiert werden. Auch ist es ein anderer Fall als bei der Abstimmungsbeschwerde über die USR II, als das Bundesgericht mit argumentierte, das neue Recht sei bereits in Kraft getreten und könne deshalb nicht rückgängig gemacht werden, ohne Rechtsunsicherheit zu schaffen. Insofern kann ich den Entscheid des Bundesgerichts gut nachvollziehen.
Wie wird es jetzt weitergehen mit der Heiratsstrafe?
Das politische Thema ist ja weiterhin hochaktuell; es schadet sicherlich nicht, dass man vermutlich nochmals darüber abstimmen wird. Wann das sein wird, kann ich nicht sagen, es gibt ja keinen Präzedenzfall auf nationaler Ebene.
CVP-Präsident Gerhard Pfister fordert den Bundesrat auf, eine neue Botschaft zu formulieren. Dann müsste der ganze parlamentarische Prozess noch einmal durchlaufen werden.
Das kann man aus meiner Sicht aus diesem Urteil nicht schliessen. Lausanne hat nur über die Abstimmung befunden. Aber letztendlich ist das ist eine politische Frage. Der Bundesrat wird sich nun beraten und mit den Parteien das Gespräch suchen.
Das Abstimmungsbüchlein geniesst in letzter Zeit nicht den besten Ruf. Diese Kritik wird nach dem Entscheid des Bundesgerichts noch lauter werden.
Ja, ich glaube, die Folgen für das Abstimmungsbüchlein werden erheblich sein. Man wird noch genauer schauen müssen, wie die Stimmberechtigten im Vorfeld von Abstimmungen ausgewogen und neutral informiert werden können. Anderseits hat sich viel getan in den letzten Jahren. Als es eingeführt wurde, war das Abstimmungsbüchlein mehr oder weniger das Sprachrohr der Behörden, die Informationshoheit war in den Händen des Bundesrats. Mittlerweile wird den Argumenten der Gegenseite viel mehr Platz eingeräumt.
Werden jetzt andere knappe Abstimmungsentscheide ebenfalls in Frage gestellt?
Nein, wir sind nicht in der Türkei. Es gibt klare juristische Vorgaben für die Abstimmungsunterlagen und es gibt klare juristische Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen und innert welcher Frist eine Abstimmungsbeschwerde eingereicht werden kann.
Untergräbt dieser Entscheid das Vertrauen in die direkte Demokratie?
Vielleicht wird der Lack etwas abgekratzt. Die Schweizerinnen und Schweizer haben die Angewohnheit, aus der direkten Demokratie manchmal fast einen Popanz zu machen. Dabei wird häufig übersehen, dass es in der direkten Demokratie auch immer wieder zu Rechtsverstössen kommt, insbesondere zulasten von Minderheiten. Ein demokratischer Entscheid behält aber nur langfristig Gültigkeit, und Legitimation, wenn er auch rechtmässig ist. Das hat das Bundesgericht jetzt bezüglich dem Beschwerderecht und dem Gebot korrekter Information bestätigt.