Sag das doch deinen Freunden!
Die ETH Zürich zählt zu den führenden Hochschulen weltweit. Was ist das Geheimnis dieses Erfolgs?
Lino Guzzella: Für eine gute Hochschule benötigt man vier Komponenten. Die erste ist Geld. Das klingt geradezu trivial, aber genügend finanzielle Mittel sind eine Notwendigkeit. Die zweite ist Zeit. Eine gute Hochschule entsteht nicht von heute auf morgen, man muss eine Tradition, eine Kultur und eine Reputation aufbauen. Der dritte Aspekt ist Autonomie. Eine Hochschule braucht Freiräume, damit sie ihre Nische finden kann. Der absolut wichtigste Punkt aber ist der vierte.
Und der wäre?
Die Menschen. Die ersten drei Bedingungen sind nur dazu da, damit die vierte zur vollen Entfaltung kommt. Auf diese Weise ist es der ETH und nicht zuletzt meinen Vorgängern gelungen, talentierte Menschen an die ETH heranzuführen und sie zu einer derart fantastischen Hochschule zu machen.
Die Entwicklungen der letzten Zeit waren für die ETH nicht nur positiv. Was bereitet Ihnen die grössten Sorgen?
Das kann ich nicht einmal sagen. Es sind so viele Dinge, die mich beschäftigen. Die Finanzierung ist wichtig, wir müssen weiterhin auf einer soliden Basis stehen, damit wir uns im globalen Wettbewerb behaupten können. Er wird immer härter. Singapur hat entschieden, sein Budget für Bildung, Forschung und Innovation um fast 20 Prozent zu erhöhen. Bei uns hat der Nationalrat ein Plus von 1,5 Prozent für den ETH-Bereich beschlossen. Nimmt man die von Bundesrat Ueli Maurer angekündigten Kürzungsprogramme hinzu, liegen wir bei etwa 0 Prozent. Da wird es schwierig im Konkurrenzkampf um gute Leute mit der National University of Singapore.
Es heisst sogar, die ETH müsse ein Sparprogramm aufgleisen.
Bis vor einem Dreivierteljahr hat man uns andere Versprechungen gemacht. Wir würden wie bis anhin 3,5 Prozent mehr erhalten. Wir haben unsere Planung darauf ausgerichtet und mussten deshalb unser Budget massiv entlasten, damit wir trotzdem die nötigen Freiräume haben, um Neues anzupacken. Eine Hochschule, die das nicht macht, verdorrt. Das bedingt Abstriche in anderen Bereichen. Diverse Bauprojekte, die wir gerne realisiert hätten, mussten wir zurückstellen oder ganz streichen.
Könnten Sie durch Sponsoring mehr Geld beschaffen?
Sponsoring bedeutet, dass man Geld gibt und eine Gegenleistung erwartet. Das gibt es an der ETH praktisch nicht, ausser vielleicht bei Sportevents. Es gibt aber Zusammenarbeitsverträge mit der Industrie und Donationen. Letztere waren in den Medien ein Thema, etwa in Zusammenhang mit Professuren. Aber die ETH macht nie etwas, nur um Geld zu bekommen. Es ist umgekehrt. Wenn wir eine Idee haben, erkundigen wir uns, ob jemand sie unterstützen will. Die ETH verfolgt eine langfristige Strategie, in welche Richtung sich Forschung und Lehre entwickeln sollen. Drittmittel können dabei helfen, erst recht in Zeiten beschränkter Bundesmittel. Diese Geldquellen sind aber stets «no strings attached»!
Ist die ETH überhaupt noch «eidgenössisch»? Die Unterrichtssprache in vielen Bereichen ist Englisch.
Sie ist zu 100 Prozent eidgenössisch. Wir insistieren darauf, dass das Grundstudium an der ETH für unsere Töchter und Söhne gedacht ist. Wir unterscheiden zwischen Bildungsinländern und Bildungsausländern, nicht zwischen Schweizern und Nichtschweizern.
Was bedeutet das genau?
Bildungsinländer sind jene Leute, die hierzulande ihre Maturität gemacht haben. Dazu gehören die Ausländer, die in der Schweiz leben. Das Grundstudium ist auf Deutsch, auch darauf beharren wir. Von den knapp 9000 Studierenden in dieser Phase sind etwa 14 Prozent Bildungsausländer. Je höher man geht, umso internationaler wird es. Aber das Grundstudium ist auf Menschen aus der Schweiz ausgerichtet.
Der Nationalrat will der ETH ermöglichen, von Bildungsausländern dreimal höhere Studiengebühren als von Einheimischen zu erheben. Ist das eine Option?
Dafür ist der ETH-Rat zuständig. Diese Frage fällt nicht in meine Kompetenz.
ETH-Ratspräsident Fritz Schiesser hat in einem Interview gesagt, er wolle eigentlich keine Unterscheidung bei den Studiengebühren.
Herr Schiesser ist mein Chef. Was er sagt, ist sicher richtig (lacht). Aber nochmals: Ich kann mich zu diesem Thema nicht äussern.
Die Maturandenquote in der Schweiz ist im internationalen Vergleich ziemlich tief, was immer wieder zu Diskussionen führt. Wo stehen Sie bei diesem Thema?
Uns ist eigentlich egal, wie hoch die Quote ist. Wichtig ist die Qualität der Leute, die zu uns kommen. Man hört es in der Schweiz nicht gerne, aber ich stehe dazu: Die ETH ist eine Schule, die für die Eliteausbildung zuständig ist. Unsere Leute nehmen führende Positionen ein in Wissenschaft, Wirtschaft und auch Politik. Der amtierende Bundespräsident ist ein ETH-Absolvent.
Er hat den Auftrag, das hiesige Fachkräftepotenzial besser auszuschöpfen.
Wir bilden Leute aus, die Ausserordentliches leisten, und dafür müssen sie ausserordentliche Talente mitbringen. Ich werde es nie zulassen, dass das Qualitätsprimat unterhöhlt wird. Es bringt nichts, wenn ich gratis ETH-Diplome verteile. Wer die Eignung zum Studium mitbringt, den nehmen wir sehr gerne, denn wir brauchen viel mehr MINT-Absolventen, also in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Ein ETH-Studium ist hart, wir verlieren deshalb rund 30 Prozent der Studierenden.
Sie haben es erwähnt: Viele in der Schweiz haben ein gestörtes Verhältnis zum Begriff Elite.
Das ist richtig. Darum unterscheide ich zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit. An der ETH hat jeder eine Chance, der eine Matura mitbringt, egal welche Noten er oder sie hatte. Aber nicht jeder besteht die ETH, sondern nur, wer klug, engagiert und fleissig genug ist und sich in das Studium hinein kniet. Das entspricht meinem meritokratischen Selbstverständnis. In diesem Sinne ist die ETH eine sehr demokratische und überhaupt nicht elitäre Institution.
Hat die Politik das verstanden? In den Sonntagsreden wird die Bildung als einziger Rohstoff der Schweiz beschworen, aber im Alltag wird sie manchmal wie ein Stiefkind behandelt.
Das glaube ich nicht. Die grosse Mehrheit der Politikerinnen und Politiker über alle Parteien hinweg ist sich der Bedeutung der Universitäten und speziell der ETH bewusst. Aber ein grosser Teil der Bundesausgaben ist durch gesetzliche Vorgaben gebunden. Der Bildungsbereich gehört nicht dazu, sondern zur relativ kleinen Manövriermasse. Man muss aber auch sagen, dass die Politik in den letzten zwei Legislaturperioden sehr grosszügig war gegenüber der Bildung.
Jetzt haben wir eine neue Konstellation in Bern, die lieber mehr Geld für Armee und Landwirtschaft ausgibt als für die Bildung.
Das ist die Entscheidung der Damen und Herren in Bern, ich will sie nicht kommentieren. Ich will nur festhalten, dass Bildung, Forschung und Innovation das Land reich gemacht haben. Es wäre nicht schlecht, wenn wir im Interesse unserer Kinder und Enkel durch die Weiterführung dieses bewährten Rezepts dafür sorgen würden, dass das Land wohlhabend bleibt.
Ein heisses Eisen ist die weitere Teilnahme der Schweiz am EU- Forschungsprogramm Horizon 2020. Sie steht wegen des Kroatien-Protokolls auf der Kippe.
Die Schweiz hat die Chance, kurzfristig und pragmatisch das Kroatien-Protokoll zu ratifizieren, trotz aller verfassungsrechtlicher Bedenken, die ich nachvollziehen kann. Sie wäre wieder ein voll assoziiertes Mitglied und hätte Zugang, bis die weiteren Fragen geklärt sind.
Sie ärgern sich darüber, dass das Parlament die Ratifizierung mit einer Lösung bei der Masseneinwanderungsinitiative verbunden hat?
Ich verstehe nicht, weshalb man dieses gut funktionierende System gefährdet. Wenn wir das Kroatien-Protokoll nicht ratifizieren, fliegen wir am 9. Februar 2017 automatisch aus Horizon 2020 hinaus. Und wer einmal draussen ist, kommt nicht so einfach wieder hinein. Deshalb plädiere ich dafür, eine pragmatische Lösung anzustreben.
Was wären die Folgen, wenn die Schweiz tatsächlich hinausfliegt?
Es gäbe eine schlimme und eine sehr schlimme Folge. Horizon 2020 besteht aus zwei grossen Mechanismen: Projektförderung und Personenförderung. Aus dem einen, grösseren Topf werden konkrete Projekte unterstützt. Ein Beispiel, an dem ich früher mitgearbeitet habe, sind sauberere Motoren für grosse Schiffe. Ohne Horizon 2020 werden wir grosse Mühe haben, bei solchen Projekten dabei zu sein. Wir müssen alles selber bezahlen. Unsere Partner werden unruhig, weil wir alles nur komplizierter machen. Wir können die Projekte nicht mehr anstossen und leiten. Das ist auch schlimm für die Schweizer Wirtschaft, die an vielen dieser Projekte beteiligt ist.
Und was ist die sehr schlimme Folge?
Sie betrifft die Personenförderung. Der European Research Council (ERC) vergibt Fördergelder an Professoren und Nachwuchswissenschaftler. Dieses Instrument ist hervorragend organisiert, mit geringem administrativem Aufwand, rein qualitätsbasiert und ohne regionalpolitische Rücksichtnahmen. Von den zehn erfolgreichsten Universitäten, die vom ERC-Programm profitiert haben, gehören neun nicht mehr zum Kerneuropa. Der grösste Teil befindet sich in Grossbritannien, das aus der EU austreten will, gefolgt von Israel und den beiden Technischen Hochschulen der Schweiz. Die einzige Ausnahme ist die Universität Kopenhagen.
Warum sind diese Fördermittel so wichtig?
Ich bezeichne sie gerne als Mini-Nobelpreise – hoch angesehen und hoch dotiert. Es wäre schlimm, wenn wir nicht mehr mitmachen könnten. Es wäre aber auch ein Schaden für die EU. Wenn England und die Schweiz draussen sind, verliert sie einen grossen Teil der Spitzenreiter in diesem Wettbewerb. Er ist gut, weil er wirklich anspruchsvoll ist. Nur die Besten der Besten erhalten einen ERC-Grant. Wenn wir hinausfliegen, verlieren wir sehr viel Geld, aber vor allem können wir nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen.
Warum ist das ein Problem?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sehr wettbewerbsorientiert. Ein Professor will von den Kolleginnen und Kollegen anerkannt werden. Wenn die Anerkennungsmechanismen fehlen, kommen sie nicht mehr zu uns, sondern gehen an andere Hochschulen, wo sie am Wettbewerb teilnehmen können. Das ist ein sehr grosses Problem.
Die SVP behauptet aber, Horizon 2020 werde überschätzt, es gehe nur ums Geldverteilen.
Kritisiert wird meistens der erste Teil mit der Projektförderung. Da könnte man gewisse Abläufe tatsächlich effizienter gestalten. Bei der Personenförderung habe ich noch nie etwas gesehen, das nicht absolut korrekt und richtig gemacht wurde. Wer die ERC-Unterstützung erhalten hat, verdient sie auch. Ich kenne die meisten, das sind Topleute.
Sie haben es angesprochen: Eigentlich kann die EU bei Horizon 2020 gar nicht auf die Schweizer Hochschulen verzichten.
Das trifft zu. Ich weiss aber nicht, ob die EU das auch so sieht. In der Politik wird nicht immer rein sachlich entschieden. Deswegen fürchte ich sehr, dass die Europäische Union den Bereich Bildung, Forschung und Innovation dazu benutzt, ihre eigenen Interessen durchzusetzen: Können wir uns mit der Schweiz nicht einigen, treffen wir sie dort, wo es ihr am meisten weh tut, also im Bildungsbereich.
EU-Kritiker schlagen vor, die Schweizer Hochschulen sollen nach dem Brexit verstärkt mit ihren britischen Pendants wie Oxford und Cambridge zusammenarbeiten.
Das geschieht heute schon. Ich kann mir vorstellen, dass man es noch intensivieren kann. Aber die Vorstellung, dass man innerhalb kürzester Zeit eine Alternative zu Horizon 2020 aufbauen könnte, ist illusorisch. Das liesse sich vielleicht innerhalb von zehn Jahren realisieren. Jetzt haben wir aber schon etwas, das funktioniert, sich über Jahre hinweg bewährt hat und weltweit anerkannt ist. Und wir gefährden es leichtfertig. Ich gebe zu, ich bin sehr froh, dass ich dafür nicht verantwortlich bin.
Sie müssten es aber ausbaden.
Ich bin als Präsident dafür da, Lösungen zu finden. Die ETH ist nicht gut, weil sie das selber sein will. Sie muss gut sein, damit sie dem Land nützt. Eine schlechte ETH nützt der Schweiz nichts. Man kennt uns weltweit. Mit einem ETH-Abschluss kann man an jede Universität gehen. Das ist der Wert unserer Ausbildung. Unsere Forschung hilft mit, die Probleme der Welt zu lösen.
Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wurde die Rekrutierung von Arbeitskräften aus Drittstaaten verschärft. Dies dürfte Ihnen ebenfalls Bauchweh bereiten.
Etwas weniger. Wir profitieren von der Tatsache, dass der Bereich Ausbildung von der Kürzung der Drittstaaten-Kontingente nicht betroffen ist. Für Professorinnen und Professoren gibt es ohnehin ein Spezialgesetz. Ich verstehe aber alle Wirtschaftsvertreter, die darüber klagen.
Solche Klagen hört man auch von Startups, die sich ohnehin über die Rahmenbedingungen in Zürich aufregen. Ein Beispiel ist das aus ihrer Sicht gründerfeindliche Steuersystem.
Die ETH hat allein letztes Jahr 25 Spinoff-Firmen gegründet. Sie verkaufen keine Glacés, sondern sind im Hightech-Bereich tätig. Die Schweiz lebt davon, dass sie hochwertige Produkte auf dem Weltmarkt zu sehr hohen Preisen absetzen kann. Das geht nur, wenn wir die Besten sind. Die Schweiz ist dazu verurteilt, die Nummer Eins oder Zwei zu sein.
Was tragen die Jungunternehmer dazu bei?
Traditionelle Unternehmen investieren massiv in neue Spitzenprodukte, aber es gibt auch immer mehr junge Leute, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Ich finde das extrem schön und bewundere solche Menschen. Spin-offs sind für die ETH wichtige Vehikel, um Technologien früh in die Gesellschaft zu bringen. Es ist nicht sehr weitsichtig, wenn man ihnen Schwierigkeiten bereitet. Wenn sie einmal Geld verdienen, soll man sie besteuern. Sie haben ja von Steuergeldern profitiert. Aber wenn man das Pflänzchen erntet, bevor es die ersten Blüten treibt, ist das nicht sehr klug. Die Gefahr, dass das Pflänzchen nicht wächst, ist sehr gross.
Oder es verpflanzt sich an vorteilhaftere Startup-Standorte, etwa Berlin oder London.
Die Gefahr besteht, aber die Zürcher Regierung ist sich dessen bewusst. Alle sind guten Willens, Lösungen zu finden im Rahmen des Möglichen. In der Schweiz geht aber alles etwas langsamer. Das ist nicht immer schlecht, aber manchmal wird man schon etwas ungeduldig.
Wir sollten massiv in die ETH investieren. Wir sollten die Quote der in diesem Land geborenen und wohnhaften Studierenden hochhalten und die im Vergleich tief liegenden Studiengebühren für aus dem Ausland kommenden Studierenden stark erhöhen. Wir sollten mit dem Begriff Bildungselite progressiv umgehen und wir sollten uns freuen eine solche bedeutende Institution zu haben. Das Geld ist da und wir sollten es weniger in die Landwirtschaft versubventionieren. Alles für die Zukunft der Schweiz.