Dieser Politiker wehrt sich gegen Röstis Pläne: «Tempo 30 ist eine Chance für Zentren»
Das Herz von Hanspeter Hilfiker schlägt für Städte, auch für grosse Städte. Regelmässig reist der Aarauer Stadtpräsident in seinen Ferien nach New York, Rom oder Wien. Ein grosser Kontrast zu seinem Daheim, das aus New Yorker Sicht ein beschauliches Dorf ist.
Am Donnerstag ist Hilfiker nun zum obersten Städter gewählt worden. Er tritt die Nachfolge von Anders Stokholm, bis vor kurzem Stapi von Frauenfeld, an der Spitze des Städteverbands an. Von Wohnungsnot bis Tempo 30: Im Interview äussert sich Hilfiker, der wie seine Vorgänger der FDP angehört, zu den grössten Problemen, mit denen die Städte derzeit konfrontiert sind.
Herr Hilfiker, Städter seien arrogant, woke und grüssen nicht: Welches der Klischees, die es über Städter gibt, stimmt?
Städte sind dynamisch, dicht, vielfältig, das Leben ist hier vielleicht etwas hektischer und auch anonymer. Da ist es schon so, dass sich auf der Strasse nicht alle grüssen. Das gilt auch für Aarau.
Aarau hat gerade einmal 23’000 Einwohner. Inwiefern können Sie als Aarauer Kleinstädter die Interessen von urbanen Zentren wie Zürich, Genf oder Basel vertreten, die zehn- bis zwanzigmal so gross sind?
Aarau ist Zentrum einer Agglomeration mit über 100'000 Menschen. Auch wenn wir kleiner sind als Zürich oder Basel, die Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen, sind kaum anders als in grösseren Städten. Klima-, Energie-, Verkehrsthemen, bezahlbarer Wohnraum oder soziale Fragen beschäftigen auch uns.
Sie sprechen den Verkehr an. Beim Tempo 30 will Verkehrsminister Rösti die Städte übersteuern – und 30er-Zonen an verkehrsorientierten Strassen verbieten. Das würde auch Aarau betreffen.
Ich halte diese Pläne für bedenklich. Man muss sich bewusst sein, was die Folgen wären. Schauen wir uns die Bahnhofstrasse in Aarau an: Eine Strasse, die täglich 15’000 Fahrzeuge befahren, auf der Busse unterwegs sind und Velos. Hinzu kommen 15’000 Fussgängerinnen und Fussgänger, die jeden Tag die Strasse überqueren. Mit 50 km/h konnte man die Bahnhofstrasse ohnehin nie passieren.
Zwei Jahre lang hat die Stadt dort nun Tempo 30 getestet. Mit welchem Ergebnis?
Die Resultate sind eindeutig: Mit dem neuen Regime fahren alle besser als vorher. Der Verkehr fliesst besser und die Leute können die Strasse einfacher überqueren. Deshalb wollen wir die 30er-Zone – gemeinsam mit dem Kanton – definitiv einführen. Das Beispiel zeigt: Tempo 30 ist eine Chance für Zentren. Man muss den Gemeinden die Autonomie geben, selbst zu entscheiden, was wo sinnvoll ist.
Werden Sie sich gegen die Pläne wehren?
Auf jeden Fall. Der Städteverband wird sich weiter einbringen, auch bei der Vernehmlassung, weil die Städte und Agglomerationen besonders betroffen sind.
Warum löst Tempo 30 bei manchen so einen extremen Abwehrreflex aus?
Einige nehmen es wohl als Angriff auf den Strassenverkehr wahr. Gerade Tempo 30 soll aber verflüssigen und die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden besser aufeinander abstimmen. In Aarau beispielsweise sind wir uns durchaus bewusst, dass wir als Ort mit ländlichem Umfeld erreichbar bleiben müssen, auch für Autos. Der Ausbau des ÖV und die Förderung des Langsamverkehrs bieten gute Möglichkeiten, um den gesamten Verkehrsfluss zu verbessern.
Städte scheinen selbst unter Städtern einen schlechten Ruf zu haben.
Einen schlechten Ruf? Das nehme ich nicht so wahr. Die Städte sind in den vergangenen 30 Jahren immer attraktiver geworden. Die Stadtzentren sind als Wohnorte wieder begehrt, auch für Junge. Die Probleme, die man früher hatte – Stichwort AAA: Arme, Alte, Ausländer –, sind Vergangenheit. Heute erbringen die Städte mehr als 80 Prozent der Schweizer Wirtschaftsleistung. Das ist eindrücklich.
Dafür hat man jetzt mit anderen zu kämpfen. Ein riesiges Thema ist die Wohnungsnot.
Das ist richtig. Ein Rezept dagegen habe ich auch nicht. Wichtig bleibt eine ausgewogene Wohnraumentwicklung in den Städten. Der Städteverband hat dazu 2024 ein Positionspapier erarbeitet und diverse Vorstösse unterstützt. Vorkaufsrechte, Baurechte, aber auch beschleunigte Verfahren sind Massnahmen, die helfen können. Die Rechte von Mieterinnen und Mietern sind zu wahren – Stichwort Sugus-Häuser in Zürich. Gleichzeitig sollen Sanierungen und Erneuerungen möglich bleiben. Wir brauchen nicht nur billige, sondern Wohnungen in allen Preiskategorien.
Was halten Sie von einer staatlichen Mietzinskontrolle, wie sie Basel und Genf kennen?
Wenn die Vorgaben dazu führen, dass Hauseigentümer nichts mehr investieren, kommt das nicht gut. Der Städteverband ist daran, ausgewogene Lösungen vorzuschlagen und in die politischen Diskussionen einzubringen.
Welche Baustellen gibt es sonst noch?
Was praktisch alle Städte beschäftigt, sind Fragen der Klimaanpassung sowie die Suchtproblematik. In letzter Zeit haben auch in kleineren Städten die Drogenszenen zugenommen. Wir können die damit verbundenen Probleme nicht allein stemmen. Massnahmen müssen über alle politischen Ebenen abgestimmt sein.
Was heisst das konkret?
Der Bund verfolgt in der Suchtpolitik eine Vier-Säulen-Strategie, der sich viele Kantone und Städte ergänzend angeschlossen haben. Der Aargau ist hier im Rückstand. Bei neuen Stoffen, beispielsweise Crack, sind die Strategien anzupassen. Aktuell lanciert der Kanton Aargau in Brugg ein Pilotprojekt, es braucht aber weitere Schritte wie Kontaktstellen.
Braucht es mehr Städter in Bundesrat und Parlament?
Es ist wichtig, dass die Städte gut vertreten sind auf Kantons- und Bundesebene. Diesbezüglich besteht ein gewisser Aufholbedarf.
Dabei leben drei Viertel der Menschen in der Schweiz in der Stadt oder in der Agglo. Lobbyieren die Städte vielleicht einfach schlecht?
Nein, das finde ich nicht. Aber wir müssen und dürfen lauter werden. Die Städte müssen mehr mitreden bei Themen, die auf nationaler Ebene ausgehandelt werden. Das müssen wir angehen.
